Europa und Russland dürften sich nicht voneinander abwenden, warnt Schüssel.
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Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ist nun Vorsitzender des Think Tanks Dialog-Europe-Russia. Er hielt auf Einladung des "Salzburg Global Seminars" einen Vortrag über die Beziehungen zwischen Europa und Russland. Mit der "Wiener Zeitung" sprach er auch in einem Interview über dieses Thema.
"Wiener Zeitung": In den letzten Wochen war zu lesen, dass sich Russland Richtung Osten orientiert. Kann es sein, dass Russland von Europa enttäuscht ist?Wolfgang Schüssel: Ich glaube, dass das eine natürliche Entwicklung ist, die wir auch machen. Auch wir investieren sehr viel Energie, um auf den asiatischen Märkten stärker präsent zu sein. Das ist ein bisschen Wettbewerb, aber es ist weder besorgniserregend noch ein Krisenzeichen. Der Welthandel wächst eher in den aufstrebenden Märkten, deshalb wird man sich dorthin orientieren. Das ändert nichts daran, dass für sehr lange Zeit für Russland Europa der wichtigste Partner sein wird.
Die Beziehungen zwischen Europa und Russland spielen sich auf vielen Ebenen ab - Sicherheits- und Energiepolitik, Handel, Menschenrechte. Befördert das Schwarz-Weiß-Malerei, wie Sie das auch in Ihrem Vortrag angedeutet haben?
Das ist nicht meine persönliche Meinung. Es gibt über Russland zwei komplett widersprüchliche Auffassungen: Die eine ist, Russland ist auf einem katastrophalen Weg, und die andere ist, Russland ist großartig. Die Frage ist, was macht man daraus. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Russland von Europa abwendet oder dass wir uns von Russland abwenden. Wir dürfen aber auch nicht den Dialog über die innere Situation Russlands aufgeben. Das ist vielleicht mühsam, zeitaufwendig und energieraubend, aber es lohnt. Ohne Russland und seinen Einfluss wird es viel schwieriger sein, konstruktive Dinge durchzusetzen. Immerhin handelt es sich um ein UN-Sicherheitsratsmitglied mit Vetomacht. Man sieht im Syrien-Konflikt, wie mühsam das sein kann. Im Iran-Fall ist Russland dagegen vorsichtiger geworden. Das ist positiv.
Der Dialog mit Russland ist aus europäischer Sicht sehr vielfältig. An welcher Stelle kommen in der Realpolitik die Menschenrechte?
Das kann man nicht gegeneinander ausspielen. Das eine hat gegenüber dem anderen nicht Vorrang oder Nachrang. Es sind gleichberechtigte Themen, die angesprochen werden müssen und die ja auch uns vorgeworfen werden. Wir bekommen in Europa ununterbrochen den Spiegel vorgehalten. Der Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten wird kritisiert, die Pressefreiheit wird in manchen osteuropäischen Ländern heftig kritisiert. Dem muss man sich auch stellen. Das kann man nicht gegeneinander ausspielen. Auf der anderen Seite ist Russland für Österreich seit 50 Jahren ein erstklassiger Partner.
In Ihrem Vortrag haben Sie eine weltweite Nabelschau diagnostiziert. Welche Risiken birgt das?
Es besteht die Gefahr, dass jeder auf sich schaut und jeder seine Welt als die alleinig interessante empfindet. Bei der US-Wahl war genau das zu sehen. Das gleiche gibt es in China, in Russland, in Europa, in der Türkei. Die Dinge werden zum Teil sehr stark aus der Vergangenheit heraus gesehen und aus den jeweiligen Interessenslagen. Das ist eine Gefahr. Ein Mehr an Offenheit wäre nicht falsch.
In einem Zeitalter der Globalisierung und Vernetzung ist das eigentlich verwunderlich.
Einerseits verwunderlich, aber gerade angesichts der Komplexität unserer Zeit ist die Sehnsucht nach dem Bewahren der eigenen Identität etwas, was stark prägt und gewinnt. Es ist nicht unverständlich, aber es wäre ganz falsch, Nabelschau zu pflegen.
Wird zu wenig versucht, das Selbstverständnis des Gegenübers zu verstehen, sich in den anderen hineinzuversetzen, auch zwischen Europa und Russland?
Natürlich, wer Russland verstehen will, manches Misstrauen, das uns entgegenschlägt, der muss die Kultur verstehen. Das hat natürlich auch etwas mit der Geschichte Russlands zu tun. Die Russen haben im vorigen Jahrhundert Furchtbares von unserem Teil Europas erfahren. Es ist notwendig, dass man nicht vergisst, was im Holocaust geschehen ist. Es wurde aber ziemlich verdrängt, was in Osteuropa Furchtbares geschehen ist. Das Wissen über die Sensitivitäten des anderen ist wichtig.