Psychische Erkrankungen sind der häufigste Grund, warum Österreicher vorzeitig in Pension gehen.
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Wien. Erstmals nach 27 Jahren ist es ab 1. September so weit. Die Zuzahlung der Krankenkassen, wenn jemand Psychotherapie in Anspruch nimmt, wird erhöht - von 21,80 Euro auf 28 Euro bei Gebietskrankenkassen pro Sitzung. Der Hauptverband der Sozialversicherungen als Dachorganisation der Kassen ist aber noch stärker bemüht, das Angebot für psychotherapeutische Behandlungen mit vollfinanzierten Sachleistungen in Form von Psychotherapie auf Krankenschein um 25 Prozent auszuweiten.
Rund 80.000 Patienten sollen Ende 2019 dann in Form solcher "Sachleistungen" betreut werden. Nicht umsonst wurde das Freud-Museum in Wien-Alsergrund als Schauplatz für die Verkündung von Hauptverbandschef Alexander Biach und dem Präsidenten des Bundesverbandes für Psychotherapie, Peter Stippl, gewählt.
Hauptverband und Krankenkassen reagieren damit auf den Umstand, dass in Österreich zunehmend Menschen von der Möglichkeit, psychische Störungen von Fachleuten behandeln zu lassen, Gebrauch machen. Jeder zweite Mensch in Österreich ist nach den aktuellen Daten einmal in seinem Leben mit psychischen Problemen konfrontiert. Eine Viertelmillion Menschen, also rund 250.000, lassen sich deswegen pro Jahr behandeln. Tendenz steigend.
Das geht auch aus den Aufwendungen der Krankenkassen für die Psychotherapie zurück. Im Jahr 1994 lagen die Ausgaben aller Krankenversicherungen für Kostenzuschüsse zur Psychotherapie bei zehn Millionen Euro. Inzwischen sind es allein für die Zuzahlungen an die Patienten rund 25 Millionen Euro.
Dazu kommt jedoch, dass die Ausgaben für das Angebot vollfinanzierter Sachleistungen, also die Abgeltung für "Psychotherapie auf Krankenschein", seither wesentlich rasanter gestiegen ist. Diese lagen im Jahr 1994 gerade einmal bei rund fünf Millionen Euro. 2001 überstiegen die Aufwendungen für die vollfinanzierten Behandlungsangebote mit rund 18 Millionen Euro erstmals die Kosten für Zuschüsse für die Nutzung privater Angebote. Seither zeigt die Kurve deutlich nach oben - bis zu 68 Millionen im Jahr 2016 für Psychotherapie als volle Kassenleistung.
65.000 nützen private Angebote statt jene der Krankenkassen
Trotz des Ausbaus des Angebots von Psychotherapie auf Krankenschein auf 80.000 Patienten reicht das allein nicht, um den Bedarf zu decken. Zumal in der Regel nur zehn Therapiestunden gezahlt werden. Bei rund 65.000 Menschen werden Zuschüsse gezahlt. Mit der Anhebung der Zuzahlung ab Anfang September rechnet der Hauptverband damit, dass auch diese Variante stärker genützt wird. 90.000 Betroffene sollen künftig in der Kurzversorgung, das sind Ambulanzen und stationäre Einrichtungen, betreut werden.
Private Angebote boomen schon jetzt, weil bei Psychotherapeuten mit Kassenvertrag die Wartezeiten lang sind. Kommt jemand aus einer stationären Behandlung, hat dieser laut Präsident Stippl meist auch die Motivation, gleich mit einer Psychotherapie zu beginnen. Dauert die Wartezeit zu lange, wird der Antrieb zur Therapie schwächer, Rückfälle drohen. Allein, es fehlen - leistbare - Plätze. Wer privat zahlen kann, weicht daher auf diese Möglichkeit aus, in sehr dringenden Fällen lassen sich meist auch kurzfristig Termine für Behandlungen finden.
Für Hauptverbandschef Biach ist "Psychotherapie auf Krankenschein", also die Behandlung aller Betroffenen als Sachleistung der Kassen, "keine Utopie", wie er sagt. Allerdings ließ er offen, wie lange dies dauern wird. Denn auch der ab 1. September erhöhte Zuschuss von 28 Euro deckt nicht einmal die Hälfte des Honorars für eine Sitzung ab, auch wenn Biach die Hälfte schon fast erreicht sieht, wie er sagt.
In Wien liegen allerdings die Kosten pro Stunde im untersten Bereich bei 60 bis 70 Euro und reichen über 100 Euro hinaus. In Westösterreich sind die Tarife laut Verbandschef Stippl sogar höher. Für ihn ist daher die Erhöhung des Zuschusses erstmals nach 27 Jahren nur "ein erster Schritt", dem aber weitere folgen müssten. Wie viel ein Vollausbau der "Psychotherapie auf Krankenschein" kosten würde, konnte der Hauptverband nicht berechnen.
Rein formal könnte die Sozialministerin sogar noch dazwischenfunken. Denn inzwischen wurde von ÖVP und FPÖ eine Ausgabenbremse vor der für Herbst geplanten Sozialversicherungsreform beschlossen. Biach rechnet aber nicht mit einer Blockade, weil die türkis-blaue Bundesregierung sich gleichzeitig der Vereinheitlichung von Leistungen der Krankenkassen verschrieben hat. Mit den 28 Euro wird diesem Ziel entsprochen.
"Psychotherapierechnet sich"
Der verstärkte Zustrom zur Psychotherapie rührt auf eine im vergangenen Jahrzehnt beschleunigte Entwicklung zurück. Wer an einer psychischen Erkrankung leidet, wird nicht mehr als verrückt abgestempelt. So wie viele regelmäßig zur Massage gehen, nehmen andere kontinuierlich ihre Termine beim Psychotherapeuten war. Das ist auch notwendig. Denn psychische Krankheiten sind inzwischen zu einer Art Volksleiden geworden.
Mittlerweile ist diese Form der Erkrankung der häufigste Grund, warum die Österreicher vorzeitig krankheitsbedingt in Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension gehen. Für Verbandspräsident Stippl sind daher auch die steigenden Ausgaben gut investiertes Geld: "Psychotherapie rechnet sich." Der Grund: Schon jetzt dauert es besonders lang, bis Menschen mit psychischen Problemen wieder gesund werden. Im Schnitt sind diese Patienten mit 40 Tagen am längsten im Krankenstand, wobei es viele Fälle gibt, in denen die Genesung wesentlich länger dauert. Das hat beispielsweise dazu geführt, dass die Salzburger Gebietskrankenkasse ihre Investitionen in dem Bereich deutlich gesteigert hat.
Überschattet wird das Maßnahmenpaket von den anhaltenden Querelen um die Sozialversicherungsreform. Hauptverbandschef Biach ("Mir geht es um die Sacharbeit") verbiss sich jede scharfe Reaktion auf FPÖ-Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch, die ihm tags zuvor vorgeworfen hatte, er torpediere die Reformpläne der Regierung und von Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ). Der Hauptverband droht, gestützt auf ein Gutachten, mit einer Klage, weil die Ausgabenbremse ein verfassungswidriger Eingriff in die Selbstverwaltung der Sozialversicherung sei.