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"Mehr Zäune, mehr Spürhunde"

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Der britische Premier Cameron will der Flüchtlingsroute unter dem Ärmelkanal schon auf der französischen Seite Herr werden.


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London. Obwohl er neue Zäune verspricht: Für den britischen Premierminister David Cameron ist auch bei Errichtung neuer Hindernisse in Calais kein rasches Ende des gegenwärtigen Migranten-Ansturms auf den Kanaltunnel abzusehen. Und anstatt auf die humanitäre Situation näher einzugehen, fokussierte Cameron sich lieber auf die Logistik: Der Premier warnte seine in Urlaub fahrenden Landsleute und alle motorisierten Besucher der Insel am Freitag, das Problem werde dem Vereinigten Königreich "den ganzen Sommer über" zu schaffen machen.

Zum Wochenende hin haben sich die Reisebedingungen zwischen Calais, Dover und Folkestone bereits merklich verschlechtert. Über 6000 Lastwagen, für die dringend ein Ausweichplatz gesucht wird, stauen sich mittlerweile auf der Autobahn M20 an der südenglischen Küste.

Zwischen drei und fünf Stunden Extra-Wartezeit müssen laut BBC Lastwagenfahrer, die zum Tunnel oder zur Fähre wollen, rechnen. Einige Fahrer berichten allerdings von Wartezeiten von 18 Stunden.

Die Personenwagen-Beförderung durch den Tunnel und die Fahrt im Eurostar - dem Expresszug zwischen London und dem Kontinent - soll zur Zeit etwa eine Stunde länger dauern. Doch werden weitere Verzögerungen erwartet. Nur die Fähren scheinen ihren Fahrplan bisher einigermaßen einhalten zu können.

Grund für die Verzögerungen und für Camerons Warnungen sind die nächtlichen Versuche mehrerer tausend Flüchtlinge und Migranten, von Calais aus nach England zu kommen. An jedem Abend dieser Woche haben Gruppen hunderter von Menschen sich zu den Gleisen der Tunnelzüge gedrängt, Zäune durchschnitten und versucht, sich zum Tunneleingang durchzuschlagen.

Unklar, wie viele es schaffen

Trotz französischer Polizeieinsätze und neuer Sicherheitsmaßnahmen haben es einige von ihnen offenbar auch geschafft, die Insel zu erreichen. Die BBC filmte am Freitagmorgen zwei Flüchtlinge, die sich an einen in Folkestone eintreffenden Lastwagen klammerten. Drei weitere Personen, die ein Loch in die Seite eines Lastwagens geschnitten hatten, wurden beobachtet, als sie in Mittelengland aus dem Wagen sprangen und das Weite suchten.

Wie viele illegale Flüchtlinge insgesamt es bisher nach England geschafft haben, ist umstritten. Im Fährhafen Dover meldete das Sozialamt am Freitag aber, dass sich die Zahl junger Asylbewerber unter 18 Jahren in den vergangenen drei Monaten auf 600 verdoppelt habe. Die Grafschafts-Behörde von Kent bat die Regierung dringend um fünf Millionen Pfund, um die entsprechenden Fürsorgekosten decken zu können.

Premier Cameron, gerade erst zurück von einer Ostasien-Reise, nannte die Situation um Calais am Freitag "inakzeptabel". Unter seiner Leitung trat am Morgen erneut das Notstands-Komitee der britischen Regierung zu einer Sondersitzung zusammen.

Danach erklärte Cameron, er werde "alles tun", um der Lage am Kanaltunnel Herr zu werden. London werde den französischen Nachbarn "mehr Zäune, mehr Ressourcen, mehr Polizeiteams mit Spürhunden, mehr Hilfe aller Art" zur Verfügung stellen. Sieben Millionen Pfund für neue Hochsicherheits-Zäune in Calais hatte London Paris schon vergangene Woche zugesagt.

Was offenbar mehr drängt, ist der Stau im Güterverkehr: Möglichst schnell soll derweil in England selbst die M20, die Hauptader von London nach Folkestone und Dover, geräumt und für die auf Abfertigung wartenden Lastwagen ein Ausweichplatz geschaffen werden, um Rückstau zu vermeiden. Im Gespräch sind Manston Airport, ein ausgedienter kleiner Flugplatz in Kent und diverse Militärgelände im Küstengebiet.

Cameron versprach außerdem vage, mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande Kontakt aufzunehmen. "Ich weiß, dass wir hier sehr viel mehr unternehmen müssen", sagte er. Keith Vaz, der Labour-Vorsitzende des innenpolitischen Ausschusses des Unterhauses, bezeichnete die Calais-Krise als "ein EU-Problem", das im weiteren europäischen Kreis behandelt werden müsse.

Leben verunmöglichen

Zuvor hatte der britische Regierungschef schon eine wesentlich härtere Position seines Landes gegen Flüchtlinge signalisiert. Großbritannien will nicht nur seine Grenzen zum Kontinent besser sichern, sondern auch illegal eingewanderte Familien aus Afrika und dem Nahen Osten schneller als bisher wieder loswerden.

Premierminister David Cameron erklärte, das Vereinigte Königreich werde in Zukunft "keinen sicheren Hafen" mehr für Flüchtlinge aus aller Welt abgeben. Illegal ins Land gekommene Flüchtlinge und Migranten sollen so schnell wie möglich deportiert werden. "Neue Gesetze" sollen dafür sorgen, dass solche Flüchtlinge auf der Insel "keinen Führerschein bekommen, keine Wohnung mieten, kein Bankkonto eröffnen können", sagte Cameron.

Boulevard ruft nach Militär

Vier der fünf großen britischen Boulevardzeitungen haben unterdessen auf ihren Titelseiten einstimmig gefordert, Cameron solle die britische Armee einsetzen, um eine "Invasion" zu verhindern. Den Einsatz von Soldaten hat diese Woche auch der Vorsitzende der Unabhängigkeitspartei Ukip, Nigel Farage, verlangt. Cameron selbst hat zwar bisher einem Militäreinsatz nicht zugestimmt, schließt aber "gar nichts" aus. Die Boulevardzeitung Daily Mail titelte sogar einen Artikel mit dem Vergleich zum Zweiten Weltkrieg: "Wir haben Hitler abgewehrt. Wieso können unsere schwachen Führer nicht ein paar tausend erschöpfte Migranten stoppen?", schreibt die Daily Mail unverhohlen.

Scharfe Kritik zog sich der Briten-Premier allerdings von Bürgerrechtsverbänden und Opposition für die Bemerkung zu, dass "Leute in Schwärmen" übers Meer kämen, um in Großbritannien ein besseres Leben zu suchen - was ihn nicht wundere: "Schließlich haben wir hier eine unglaublich hohe Lebensqualität." Von "Schwärmen" zu sprechen, entmenschliche die Flüchtlinge, urteilten Kritiker. So lenke man nur von deren Misere ab.

Cameron solle "nicht vergessen, dass er hier von Menschen redet und nicht von Insekten", meinte die amtierende Labour-Vorsitzende Harriet Harman. Offenbar suche der Premier "die Bevölkerung aufzuputschen gegen die Migranten von Calais."

Vorigen Oktober hatte bereits Verteidigungsminister Michael Fallon erklärt, dass "ganze Städte und Gemeinden überschwemmt werden von einer Unzahl von Migranten" und dass einzelne Küstenstädte sich "belagert" fühlten. Für diese Worte hatte Fallon sich später entschuldigt.

Tadel seitens der UNO

Peter Sutherland, Sonderbotschafter des UN-Generalsekretärs für Migrationsfragen, warf Cameron vor, das Ausmaß der Calais-Ereignisse auf unverantwortliche Weise aufzublähen. Es handle sich letztlich ja nur "um eine relative kleine Zahl von Menschen - wenn man sich anschaut, was sich in anderen Ländern tut."

Erst einmal solle man sich in London die Lebensumstände dieser Leute ansehen, sagte Sutherland: "Statt über die Entsendung von Gurkhas (Soldaten) oder die Errichtung von Zäunen zu reden, sollten wir an die humanitäre Krise denken."

In der Tat sehen Kritiker keinen Grund, dass bei der Kanalkrise von einem Ansturm speziell auf die Britischen Inseln, oder gar von einer drohenden "Invasion" der Insel, die Rede sein solle. Von den etwa 185.000 Menschen, die seit Jänner übers Mittelmeer nach Europa gekommen sind, sitzen tatsächlich höchstens 5000 in Calais. Und vergangenes Jahr gingen zum Beispiel in Deutschland 175.000 Asyl-Anträge ein, in Großritannien aber nur 24.000.

London macht nicht mit

London lehnt es auch ab, sich an Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer zu beteiligen oder im EU-Rahmen ein festes Kontingent an Flüchtlingen aufzunehmen. Derweil liefern die Bilder aus Calais all jenen britischen Politikern - wie Ukip-Chef Farage - Munition, die das Königreich aus der EU führen und generell die Zugbrücken zum Kontinent hochziehen möchten. Schon im nächsten Jahr könnte das Referendum über einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU stattfinden, das Cameron der Nation versprochen hat.