Zum Hauptinhalt springen

Mehrheit der Esten gegen EU

Von Jakob Lemke

Europaarchiv

Tallinn - Bei estnischen Regierungspolitikern wächst die Furcht vor der irgendwann bevorstehenden Volksabstimmung über den EU-Beitritt. Obwohl sich Estland den Ruf eines osteuropäischen Musterkandidaten für die EU-Mitgliedschaft erworben hat, ergeben Umfragen Mehrheiten gegen den Beitritt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Derzeit würden die EU-Befürworter in dem baltischen Land, das am Montag 10 Jahre Unabhängigkeit von der damaligen UdSSR feierte, nur auf 46 Prozent kommen, die Beitrittsgegner aber auf über 50 Prozent.

Das lässt EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen ebenso wie Ministerpräsident Mart Laar in Tallinn von "Erklärungsbedarf" sprechen. Sie wollen die Gründe für das "Nein" zur EU ergründen lassen, um dann mit Kampagnen doch noch einen Stimmungswechsel herbeizuführen. Vielen Esten leuchtet nicht ein, warum sie die erst 1991 wiedererlangte Unabhängigkeit gegen den Nischenplatz in der EU eintauschen sollen. Befürchtet wird, dass der baltische Staat mit seinen nur 1,4 Millionen Einwohnern gegenüber den großen Mitgliedsstaaten keinen Einfluss haben und in einem "Einheitseuropa" die nationale Identität verlieren werde.

EU-Kommissionspräsident Romano Prodi wies das bei einem Besuch in der Hauptstadt Tallinn ausdrücklich zurück. Die "EU ist eine Union des Respekts zwischen Ländern", erklärte Prodi den Balten immer wieder. Nur hörte ihm in dem politikverdrossenen Estland kaum jemand zu.

Diskriminierung trotz EU

Außenminister Toomas Ilves spricht von "Irritationen" in der öffentlichen Meinung und hebt besonders die von der EU geplante Einschränkung der freien Arbeitsplatzwahl für die Bürger der künftigen Mitgliedsländer als Ursache heraus. Ilves nennt sie "kaum erklärbar" und meint: "Warum sollen Esten sieben Jahre auf ihr Recht warten, sich frei in der EU zu bewegen, wenn Menschen aus Island und Norwegen ganz einfach dorthin gehen und arbeiten können, obwohl ihre Länder nicht einmal dazugehören?"

Wohlstand - selbstgemacht?

Viele Esten folgen auch nicht der Brüsseler Argumentation, nur die EU garantiere wirtschaftlichen Wohlstand in Europa. Sie halten dagegen, dass Löhne und Lebensqualität seit zehn Jahren auch ohne EU- Mitgliedschaft steigen. Die führende Wirtschaftszeitung "Äripäev" outete sich im Frühjahr als "euroskeptisch" und propagiert seitdem die Vision einer "estnischen Schweiz" mit viel Computerbusiness und Genforschung wie bei den reichen skandinavischen Nachbarn. Dazu benötige man die EU doch überhaupt nicht, schreibt "Äripäev".

Verheugen warnte jüngst in Tallinn vor Selbstüberschätzung. Ausländische Investitionen könnten bei einem "Nein" zur EU wieder abfließen. Das griffen einheimische Kommentatoren dann ebenso als "typische Brüsseler Arroganz" an wie Verheugens Bemerkung: "Die meisten Fortschritte beruhen auf dem Status des EU-Kandidaten."

Sympathien weckt die EU in Estland offenbar auf ganz anderen Feldern. Als im Mai ein estnisches Sängerduo völlig überraschend den Schlagerwettbewerb der Eurovision gewann, verbesserten sich plötzlich die Umfragewerte. In der für das nächste Jahr geplanten EU-Beitrittskampagne sollte die Regierung wohl auf Musik und Spiele setzen.