Tokio - Jeder künftige japanische Kaiser muss zuerst das Allerheiligste eines Holzschreins betreten. In flackerndem Fackelschein wird der künftige Thronfolger dort mit der Sonnengöttin Amaterasu sprechen. Dabei gehen die Japaner - der Tradition gemäß - von einem Mann als Gesprächspartner der Göttin aus. Doch nach der Geburt der Tochter von Thronfolger Naruhito und seiner Frau Masako, Aiko, denkt Japan nun darüber nach, Frauen den Weg auf den Chrysanthemen-Thron freizumachen.
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Während der 1.300 Jahre, in denen das ehrwürdige Ritual bislang praktiziert wurde, gab es fast nur männliche Thronfolger. Beschwert haben sich Frauenverbände darüber bisher noch nicht.
Es sei nicht der Respekt vor der Gleichberechtigung der Geschlechter, versichern japanische Experten, der die Diskussionen über eine mögliche weibliche Thronfolgerin aufleben lässt. Es sei eher ein Mangel an männlichen Kandidaten. "Wir diskutieren diese Möglichkeit nur, um die kaiserliche Familie zu bewahren, die von der Welt, in der wir leben, total isoliert ist", sagt Isao Tokoro, Geschichtsprofessor am Institut für Japanische Kultur an der Sangyo-Universität in Kyoto. "Es ist kein Frauenrechtsthema", fügt er hinzu.
Aber das Problem drängt. Der derzeitige Erbe, Kronprinz Naruhito, hat Kronprinzessin Masako vor acht Jahren geheiratet. Doch erst im vergangenen Monat kam das erste Kind des Paares zur Welt: ein Mädchen. Da Naruhito bereits 41 Jahre alt ist und seine Frau 38, wird viel darüber spekuliert, ob Prinzessin Aiko eines Tages den Thron besteigen soll.
80 Prozent würden eine Kaiserin akzeptieren
Laut Umfragen würden 80 Prozent der Japaner eine Kaiserin akzeptieren. Auch Ministerpräsident Junichiro Koizumi zeigt sich grundsätzlich aufgeschlossen - immerhin gehören seinem Kabinett fünf weibliche Mitglieder an.
In der Geschichte Japans regierten nur acht Mal Frauen das Land. Eine der bedeutendsten und die zugleich letzte Kaiserin war Gosakuramachi, die 1762 den ChrysanthemenThron bestieg.
Seit einer Gesetzesänderung 1947 war keine weibliche Thronfolge mehr möglich. "In der modernen Zeit ist es für eine Gesellschaft nicht erstrebenswert, eine Monarchie mit ungleichen Geschlechterrollen zu haben", sagt die unabhängige Abgeordnete Kiseko Takahashi. "Da macht auch die Kaiserfamilie keine Ausnahme".
Bereits 1989 sorgte ein neues Gesetz für mehr Gleichberechtigung von Frauen in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Politik. Seit 1999 ist den Japanerinnen zudem die Nachtarbeit erlaubt. Außerdem können Firmen für Diskriminierung und Belästigungen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die Antibabypille wurde vor drei Jahren legalisiert.
Ungeklärte Fragen ergeben sich aus Tradition
Trotz mehr Toleranz - im von Traditionen geprägten Japan wirft eine potenzielle Kaiserin einige ungeklärte Fragen auf: Können sich Frauen beispielsweise mit der Sonnengöttin Amaterasu unterhalten? Sie können, lautet die Expertenmeinung, aber während der Menstruation müsse sich eine Frau von einem Bevollmächtigten vertreten lassen.
Ein anderes Problem besteht beim Sumo-Ringen: Alljährlich werden dort in des Regenten Namen sechs Trophäen verliehen. Doch Frauen dürfen den Sumo-Ring traditionsgemäß gar nicht betreten.
Angesichts derartiger Unklarheiten hat es die Regierung mit der Gesetzesänderung nicht so eilig. "Wir sollten nicht von vornherein davon ausgehen, dass der Kronprinz nur ein Kind haben wird", gibt sich Taro Aso von der regierenden Liberaldemokratischen Partei optimistisch.