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"Mein Mitleid allein hilft niemandem"

Von Robert Dempfer

Reflexionen

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"Wiener Zeitung": Herr Präsident Maurer, Ihr Vorgänger, Jakob Kellenberger, hat gemeint, dass ihn die brutale Verletzung der grundsätzlichsten Regeln der Menschlichkeit an so vielen Orten sehr plagt. Wie sehr plagt Sie Ihr Amt nach zwei Jahren?Peter Maurer: Ich reise viel in unsere Einsatzgebiete. Was man dort sieht, wischt man nicht einfach weg. Aber mein Mitleid allein hilft niemandem. Es nützt nur, wenn ich es in Engagement umsetze: gute Verhandlungen führe, damit unsere Delegierten Zugang zu den Kriegsopfern erhalten.

Was empfinden Sie, wenn Sie diese Menschen treffen?

Die Kontakte zeigen mir, wie widerstandsfähig viele von ihnen sind. Wie sie immer wieder Hoffnung schöpfen, weil wir vom Roten Kreuz bei ihnen sind. Das ist als Motivation für mich viel wichtiger als die Betroffenheit ob der Not.

Sie haben sich keine Schonzeit gegönnt und in den ersten hundert Tagen Ihrer Präsidentschaft schon vierzig Außenminister getroffen. Wie war Ihr Eindruck vom neuen österreichischen?

Ich war mit Außenminister Kurz im ständigen Rat der OSZE und sehr beeindruckt von seiner Rede, seiner Frische, der Art und Weise, wie er gegenüber der Staatengemeinschaft aufgetreten ist.

Sie waren fast 25 Jahre lang Diplomat, bevor Sie im Außenministerium tätig waren. Sebastian Kurz ist mit 27 Jahren gleich Außenminister geworden.

Ich persönlich finde es toll, dass Österreich so einen jungen Außenminister hat. Weder Alter noch Jugend ist an sich ein politischer Wert. Ich habe einen ausgezeichneten Eindruck von ihm gewonnen.

Dafür ist Österreichs Beitrag zur humanitären Hilfe kein Ruhmesblatt.

Das IKRK würde schon hoffen, dass es gelingt, mehr politische Unterstützung für großzügigere humanitäre Aktivitäten zu finden. Die Republik unterstützt das IKRK mit vier Millionen Euro im Jahr. Norwegen hat weniger Einwohner und gibt 62 Millionen.

Norwegen ist nicht die Messlatte. Ich habe dem Außenminister gesagt: Eine Erhöhung der Beiträge bedingt, dass wir stärker zeigen, was das Spezielle an der Arbeit der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist. Und indem wir gemeinsam beraten: Welche sind die Länder und Themen, die in der österreichischen Öffentlichkeit auf größeres Interesse und damit auf höhere Unterstützung treffen? Ich glaube, dass der Außenminister an diesem Diskurs interessiert ist.

Sie haben kürzlich gesagt, dass mehr Anstrengungen auch deshalb nötig sind, weil sich heutige humanitäre Krisen nicht mehr an Landesgrenzen halten.

Ja, Konflikte in Syrien, Mali, der Zentralafrikanischen Republik, Afghanistan oder Pakistan haben Auswirkungen auf die ganzen Regionen. Wir haben es nicht einfach mit humanitären Problemen einzelner Länder zu tun, sondern mit der Desintegration ganzer Systeme.

Welcher Systeme?

Die Gesundheitssysteme im Nahen Osten sind dabei zu zerfallen, weil es riesige Bevölkerungsbewegungen gibt. Alleine 2,5 Millionen Syrer sind als Flüchtlinge in den Nachbarländern registriert. Das verursacht Druck auf Sozial-, Wasser- und Gesundheitssysteme, den diese nicht aushalten.

Innerhalb Syriens stagniert angeblich die Zahl der Todesfälle durch den bewaffneten Konflikt.

Inzwischen sterben in Syrien mehr Menschen wegen Epidemien, an traditionellen chronischen Erkrankungen, durch Herzversagen oder an Lebererkrankungen. Die Systeme zerfallen von der Südflanke des Sahels über Mali bis zum Horn von Afrika, vom Norden Nigerias bis in den Südsudan.

Ein weiterer Außenminister, den Sie kürzlich getroffen haben, war der syrische. Medien berichten von Folterungen und Tötungen von Gefangenen. Wie steht es mit dem Zugang des IKRK zu den Gefängnissen?

Sie haben sicher festgestellt, dass diese Berichte und Fotos am Beginn der Genfer Konferenz publiziert worden sind. Das ist kein Zufall, und es ist eine Ermahnung, sehr vorsichtig zu sein mit der Bewertung solcher Informationen.

Sie zweifeln daran, dass in syrischen Gefängnissen gefoltert wird?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil wir momentan keine Gefängnisse in Syrien besuchen. Alle Informationen, die wir mittels eigener Gefängnisbesuche erhalten sollten, würden wir aber lediglich den zuständigen Behörden bilateral und vertraulich mitteilen.

Welche Chancen haben Sie, in die Gefängnisse zu kommen?

Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was unsere syrischen Gesprächspartner versprechen, und was sie gegenüber dem IKRK einhalten. Baschar al-Assad hat mir schon vor einem Jahr versprochen, dass wir Zugang zu den Gefängnissen erhalten.

Eine Regierung, die das IKRK nicht in ihre Haftanstalten lässt, das spricht doch Bände, oder?

Letztlich beziehen Regierung und Opposition in Syrien leider keine humanitären Überlegungen in ihr politisches und strategisches Denken ein. Man kann nur Zugang verhandeln, wenn gleichzeitig eine Gegenleistung erfolgt, die im jeweiligen Interesse ist.

Was muss man sich darunter vorstellen?

In Syrien gibt es Bevölkerungen, die der Regierung nahe stehen und von der bewaffneten Opposition eingeschlossen sind. Und es gibt Bevölkerungen, die der bewaffneten Opposition nahe stehen und von Regierungstruppen eingeschlossen sind. Wir werden keinen Zugang zu der einen erhalten, wenn wir nicht gleichzeitig Verhandlungen mit der Opposition führen, um Zugang auf der anderen Seite zu erhalten.

Sie können nicht einfach nur dort helfen, wo die Not am größten ist?

Das ist es, was ich hier in Wien vor der OSZE die "Politisierung des Humanitären" genannt habe. Jede humanitäre Aktion ist gleichzeitig Gegenstand der politischen Strategie der jeweiligen Seite und nur als solche verhandelbar. Die Gratwanderung für uns ist: Was ist noch einigermaßen vereinbar zwischen unseren Prinzipien Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit und den Interessen der jeweiligen Akteure im Konflikt? Der Grat ist sehr schmal. Deshalb ist es so schwierig, Zugang zu den Kriegsopfern zu erhalten.

Syrien ist derzeit das größte Hilfsprogramm des IKRK.

Ja, aber wir werfen das Geld nicht zum Fenster hinaus. Wir haben Zugänge. Es gelingt uns immer wieder, neue zu verhandeln. Aber das, was wir machen können, ist zu wenig und kommt für viele zu spät. Folglich nimmt die Diskrepanz zwischen dem, was wir machen sollten und auch tatsächlich tun können, fast täglich zu.

Was denken Sie, wenn Sie Baschar al-Assad gegenübersitzen?

Mit Personen wie Baschar al-Assad führe ich Gespräche, um etwas zu erreichen. Ich versuche, dem Gesprächspartner zu erklären, was mein Problem ist.

Aber finden Sie, was er tut, verwerflich?

Meine Sorge ist nicht, ob ich das Handeln politischer Führer verwerflich finde. Wenn ich mit ihnen an einem Tisch sitze, ist mein Ziel, humanitären Zugang zu erreichen. Es gibt andere Institutionen, andere Prozesse und andere Zeiten, welche die Frage der historischen Gerechtigkeit behandeln werden.

Über Oberst Gaddafi haben Sie einmal gesagt: Mit der EU zu verhandeln ist komplizierter.

Ja, das finde ich.

Was ist denn einfacher: einen Staat zu vertreten oder das Rote Kreuz?

Ich finde das, was ich heute mache, persönlich leichter und professionell anspruchsvoller.

Wieso professionell anspruchsvoller?

Man ist mit sehr komplexen politischen, militärischen und humanitären Konstellationen beschäftigt. Es ist eine große Herausforderung, dabei kühlen Kopf zu bewahren. Verhandlungen um humanitären Zugang sind sehr schwierig. Aber sie sind moralisch leichter, weil ich mich nicht darüber sorge, ob das, was ich mache, richtig oder falsch ist.

Hat man, wenn man einen Staat vertritt, moralische Skrupel?

Es gibt bisweilen Differenzen zwischen dem, was man selbst denkt, und dem, was man repräsentiert. Dieses Problem habe ich beim IKRK nicht. Ich kämpfe mit ganz anderen Dilemmata.

Auch damit, dass alles, was das IKRK tun kann, letztlich sehr wenig ist angesichts der Schlachtfelder ringsum?

Ja, aber das hat schon die Gründerväter des IKRK vor 150 Jahren beschäftigt. Sie waren sich bewusst, dass sie eine Organisation mit sehr limitiertem Mandat gründen, um etwas sehr Limitiertes zu tun. Als Bürger hatten sie viel weitergehende Vorstellungen darüber, was man für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt machen müsste.

Selbst dieses Limitierte zu leisten wird immer gefährlicher. Trotzdem hat das IKRK im Vergleich zu den Vereinten Nationen relativ wenige Sicherheitszwischenfälle zu verzeichnen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Sicherheitsdoktrin, die sich von jener der Vereinten Nationen unterscheidet, richtig ist. Sie basiert darauf, dass wir unter keinen Umständen bewaffnet sind und keinen bewaffneten Schutz suchen. Dass wir Sicherheit mit allen Akteuren unabhängig von ihrer politischen, ideologischen und militärischen Orientierung verhandeln.

Trotzdem gibt es auch Todesopfer unter IKRK-Delegierten.

Aber dann haben wir irgendeine Gruppierung, die relevant ist, nicht gesehen. Nicht unsere Dok-trin ist falsch. Ich glaube, es ist diese Einbunkerung internationaler Akteure, ihre Umzingelung mit Friedenstruppen, ihre Distanzierung vom Rest der Gesellschaft, was Angriffe provoziert. Während wir die Nähe zur lokalen Bevölkerung suchen. Unsere Hilfe, die wirklich den Bedürftigen zugute kommt, ist der größte Produzent von Sicherheit.

Selbst, wenn das IKRK dafür Schafen und Kamelen helfen muss?

Sie meinen die große Operation in Mali 2013. Die haben wir binnen vierzehn Tagen aufgebaut. Wir haben 500.000 Menschen ernährt, zehn mobile Kliniken errichtet und uns auch noch um die Schafe und Kamele gekümmert, welche die Leute zurücklassen mussten, ihre Lebensgrundlage! Das hat uns in der Bevölkerung große Anerkennung verschafft.

Weil sie die Hilfe unmittelbar gespürt hat.

Genau, und letztlich ist es die Bevölkerung, die den bewaffneten Gruppierungen mitteilt: Die vom Roten Kreuz sind off limits! Diese Nähe und der ständige Versuch, tatsächliche Bedürfnisse abzudecken, sorgen letztlich für den besten Schutz.

Ein deutsches Magazin hat kürzlich geschrieben: "Außer Geheimdiensten gibt es keine Organisation, die so diskret agiert wie das IKRK".

Diese Analogie macht mich nicht glücklich. Wir machen nichts Geheimes. Wir erklären immer, was wir tun und warum. Auch bevor wir von A nach B gehen, erklären wir allen, die dazwischen eine Waffe tragen, warum. Wenn Sie das systematisch machen, haben Sie relativ wenige Zwischenfälle. Als Restrisiko bleiben wirkliche Böswilligkeit, gezielte Angriffe, oder dass man eben in einer bestimmten Situation einen Akteur übersieht.

Wie schaffen Sie es überhaupt, in Syrien mit der großen Zahl der Akteure ständig Kontakt zu halten?

Teils durch die Hilfe selbst. Wir sind in einem Territorium vor Ort und so auch mit den Kommandanten in Kontakt, die dieses Stück Syrien kontrollieren. Andere Ansprechpartner erreichen wir über Facebook, Internet, Chats. Praktisch alle Gruppierungen der syrischen Opposition sind auf Twitter und Facebook. Wir vernetzen uns auf der ganzen Welt mit Menschen, die in Syrien das Sagen haben.

Sind das viele Ansprechpartner?

Ja. Um einen Hilfskonvoi von Damaskus nach Homs durchzuverhandeln, mussten wir ursprünglich fünf Checkpoints überwinden. Heute sind es 25 bis 30.

Aber jeder, der ein Stück Syrien kontrolliert, kommt sozusagen ins IKRK-Adressbuch?

Ja, inzwischen ist es ziemlich umfangreich. Eine Schwierigkeit mit diesem Adressbuch ist, dass sich 30 Prozent der Adressen jeden Tag ändern. Wir können nie sicher sein, ob eine Gruppe, die ein bestimmtes Straßenstück kontrolliert, das morgen auch noch tut.

Wie in Syrien hat man heute überall den Eindruck: Niemand ist im Krieg sicherer als Soldaten. Es sind Zivilisten, die sterben. Müsste man das humanitäre Völkerrecht nicht zeitgemäßer gestalten, damit sie besser geschützt sind?

Es gibt noch überschaubare Situationen. Im Südsudan etwa kann man Soldaten im Kriegsrecht ins-truieren, mit dem Generalstab über die Art der Kriegführung reden und so Zivilisten schützen. Wenigstens besteht noch das Einverständnis, dass allen geholfen werden soll, die Not haben.

Aber dieser Minimalkonsens schwindet?

Wenn uns Generäle erklären, dass die verwundeten Soldaten der Gegenseite kein Anrecht auf medizinische Versorgung hätten, dann sind wir in die Ära vor Solferino und vor der ersten Genfer Konvention zurückgeworfen.

Ist es nicht eher so, dass die Genfer Konventionen in manchen Weltgegenden keine Unterstützung finden, weil sie stark westlich geprägt sind?

Nein. Wir haben es hier nicht mit einem neuen Recht zu tun, das durch die Genfer Konventionen geschaffen wurde, sondern mit einem universellen Gewohnheitsrecht, das in den Genfer Abkommen eine konventionale Ausdrucksweise gefunden hat.

Die Unübersichtlichkeit der Konflikte, die Vermengung von Kriminalität und Konflikt, die Art und Weise der Kriegführung, die sich fundamental ändert - all das macht die Einhaltung des humanitären Völkerrechtes aber tatsächlich außerordentlich schwierig. Wir stoßen in dieser Beziehung an Grenzen. Aber wo wir immer noch viel machen können, das sind die regulären Armeen.

Die im Irak oder in Afghanistan auch zivile Opfer verschulden.

Wenn ich auf zehn Jahre Afghanistan-Konflikt zurückblicke, auf unser Engagement mit den Vereinigten Staaten und den NATO-Truppen, dann ist das eine Erfolgsgeschichte. Wir haben im Sinne der Einhaltung der Kriegsregeln viel erreicht. Das hat die Zahl der zivilen Opfer erheblich reduziert.

Peter Maurer, geboren 1956 in Thun (CH), ist Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Nach dem Studium von Geschichte, Politikwissenschaften und Völkerrecht war er bis 1986 wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter am Institut für zeitgenössische Geschichte der Universität Bern. Danach war er in verschiedenen Funktionen im diplomatischen Dienst seines Heimatlandes tätig. Im Jahr 2000 erfolgte seine Ernennung zum Botschafter und zum Leiter der für die Bereiche Frieden, Menschenrechte, Humanitäre Politik und Migration im Schweizer Außenministerium. Von 2004 bis 2010 war er Chef der Schweizer Ständigen Mission bei den Vereinten Nationen.

Am 17. Oktober 2011 wurde er von der Versammlung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zum designierten Nachfolger des seit 2000 amtierenden IKRK-Präsidenten Jakob Kellenberger gewählt. Seine turnusgemäß vierjährige Amtszeit begann am 1. Juli 2012.

Peter Maurer, der nie länger als vier Stunden schläft, keinen Stress kennt, "weil ich ja täglich 20 Stunden wache Zeit habe", gehört der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) an, ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

Robert Dempfer, geboren 1967, Journalist, Buchautor und langjähriger Mitarbeiter von internationalen Hilfsorganisationen, lebt in Wien.

Zur Person
Peter Maurer, geboren 1956 in Thun (CH), ist Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Nach dem Studium von Geschichte, Politikwissenschaften und Völkerrecht war er bis 1986 wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter am Institut für zeitgenössische Geschichte der Universität Bern. Danach war er in verschiedenen Funktionen im diplomatischen Dienst seines Heimatlandes tätig. Im Jahr 2000 erfolgte seine Ernennung zum Botschafter und zum Leiter der für die Bereiche Frieden, Menschenrechte, Humanitäre Politik und Migration im Schweizer Außenministerium. Von 2004 bis 2010 war er Chef der Schweizer Ständigen Mission bei den Vereinten Nationen.

Am 17. Oktober 2011 wurde er von der Versammlung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zum designierten Nachfolger des seit 2000 amtierenden IKRK-Präsidenten Jakob Kellenberger gewählt. Seine turnusgemäß vierjährige Amtszeit begann am 1. Juli 2012.

Peter Maurer, der nie länger als vier Stunden schläft, keinen Stress kennt, "weil ich ja täglich 20 Stunden wache Zeit habe", gehört der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) an, ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.