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Unzählige EU-Bürger, die seit Jahren in Großbritannien leben und arbeiten, fragen sich, was nun aus ihnen wird.
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London. Millionen Kontinentaleuropäer in Großbritannien fürchten, post Brexit zu Bürgern zweiter Klasse heruntergestuft zu werden - oder bei einem Scheitern der Brexit-Verhandlungen ganz die Koffer packen zu müssen. Drei der Betroffenen und die Direktorin des Polnischen Zentrums in London haben unserem Korrespondenten erklärt, warum die anhaltende Ungewissheit zu einem solchen Problem für so viele Menschen geworden ist.
Joan Laplana erinnert sich genau an den Tag, an dem ihm "so richtig klar wurde, was Brexit bedeutet". Es war der Tag, an dem seine kleine Tochter weinend aus der Schule nach Hause gelaufen kam. "Sie berichtete damals, jemand im Schulhof habe zu ihr gesagt: Dein Vater muss nächstes Jahr das Land verlassen und darf nicht mehr zurückkehren." Dann habe sie ihn, den Vater, bang angesehen: "Ist das wirklich wahr?"
"Dazu", meint Joan Laplana, "konnte ich weder mit Ja noch mit Nein antworten - weil ich es auch nicht wusste." In der Tat hat die britische Entscheidung zum Austritt aus der EU dem spanischen Familienvater und rund drei Millionen anderen in Großbritannien lebenden EU-Bürgern nun schon ein volles Jahr an fataler Ungewissheit beschert.
Noch heute, zwölf Monate nach dem Referendum, rätseln die Betroffenen darüber, ob sie post Brexit weiter im Vereinigten Königreich bleiben dürfen - und wenn ja, zu welchen Bedingungen und mit welchen Garantien.
Bis zum letzten Sommer, erklärt es Joan Laplana, habe er sich ja noch "ganz sicher" gefühlt in seiner Wahlheimat. "Aber all das hat sich geändert, als ich am Morgen nach dem Referendum aufwachte und begriff, dass nichts mehr war wie zuvor."
Der heute 42-Jährige war zur Millenniumswende von Spanien nach England gezogen, um im Nationalen Gesundheitswesen, dem NHS, als Pfleger zu arbeiten. Er wohnt heute in Chesterfield und ist mit einer Britin verheiratet. Die drei Kinder sind 15, 12 und fünf Jahre alt.
"Nach England bin ich gezogen, weil mich der NHS interessiert hat", sagt Joan Laplana. "Das war damals, im Jahr 2000, einer der besten Gesundheitsdienste der Welt." Im NHS, mit seiner multikulturellen, multinationalen Belegschaft, sei es leicht für ihn gewesen, sich zu integrieren. "Ich habe hart gearbeitet, habe 17 Jahre lang meine Steuern bezahlt hierzulande und bin in dieser Zeit nie benachteiligt worden. Jetzt aber soll ich plötzlich kein vollwertiger Bürger mehr sein."
Mit einem Mal werde er gefragt, warum er denn nicht "nach Hause" gehe, berichtet Laplana. "Aber Spanien ist nicht mehr mein Zuhause. Gut, ich habe einen spanischen Pass. Aber ich habe fast mein ganzes erwachsenes Leben hier in Großbritannien verbracht. Ich lebe hier. Meine Kinder sind britisch. Ich betrachte Britannien als mein Land." Was ihn wirklich ärgere, meint Joan Laplana, das sei, dass nach all den Jahren plötzlich sein Akzent, seine Herkunft eine Rolle spiele. Und dass er und all die anderen "Kontinentalen" auf einmal für alles verantwortlich gemacht würden - für die Probleme des Landes, für die Krise des NHS.
"Man macht uns zu Sündenböcken. Das macht mich wirklich wütend." Theresa May behandle Leute wie ihn "fast schon wie Kriminelle". Festland-Europäer müssten sich offenbar demnächst Fingerabdrücke abnehmen lassen und sollten Ausweise bei sich tragen, während britische Staatsangehörige sich weiter gegen jede Form der Registrierung sträubten. Damit, meint er, schaffe man "eine Zwei-Klassen-Gesellschaft" im Vereinigten Königreich.
Was ihn endlos verwundert, ist die Naivität vieler Einheimischer, die sich von Abgrenzung gegenüber dem Kontinent die Lösung aller Probleme versprechen. "Wir sind bereits jetzt sehr ausgedünnt, mit Pflegern, Schwestern und Ärzten. Die letzten zehn Jahre über war der NHS schon ganz auf die Europäer angewiesen. Jetzt beginnen sie auszubleiben, weil Theresa May ihnen zu verstehen gibt, dass sie hier nicht mehr willkommen sind. Kollegen von mir bereiten die Abreise vor."
Im Grunde, meint Joan Laplana, fühle er sich, so wie die Sache jetzt laufe, "betrogen". Seinerzeit habe man ihn geradezu gedrängt, nach Großbritannien zu kommen: "Sie haben verzweifelt nach Pflegern gesucht. Sie haben mir gesagt, ich könne hier arbeiten, ich könne mich hier ansiedeln, ich könnte mir meinen Traum erfüllen. Plötzlich wandelt sich dieser Traum in einen Albtraum. Das macht mich wirklich zornig. Die spielen mit meinem Leben. Es ist nicht fair."
Alexandrine Kantor ist aus Straßburg. Sie ist 29. Sie arbeitet seit drei Jahren nahe Oxford, an einem Atomenergie-Projekt. "Es geht um die nächste Generation von Atomkraftwerken, um Atomenergiegewinnung ohne Schädigung der Umwelt, um etwas, was im Einklang steht mit der Pariser Umwelt-Vereinbarung. Aber leider ist das alles nun in Gefahr."
Denn diese Arbeit, an der Front technologischer Entwicklung, wird getragen von Euratom, der europäischen Atom-Behörde. Und die Regierung May hat klargemacht, dass ihr Land im Zuge des Brexit auch aus Euratom ausscheiden soll. "Von dieser Ungewissheit sind wir alle betroffen." Zahllose Wissenschafter vom Kontinent sind an dem Projekt beteiligt. Der Brexit hat, wie das NHS, auch die Forschung auf der Insel in Schwierigkeiten gebracht.
Aber auch sonst hasst Alexandrine Kantor die Unsicherheit, in der sie schwebt - wie die meisten EU-Bürger auf der Insel. "Ich hab keine Familie hier. Ich bin hierher gekommen, weil ich mir im Vereinigten Königreich ein besseres Leben, bessere Berufsaussichten, erhofft habe. Meinen Job hier liebe ich. Inzwischen habe ich eine Hypothek aufgenommen und bin noch andere finanzielle Verpflichtungen eingegangen. Aber wegen der ungewissen Lage weiß ich nicht, ob ich die Hypothek behalten kann oder ob ich wieder aus meiner Wohnung ausziehen muss. Was passiert als Nächstes mit mir?" Auch, dass sie nun nicht mehr ohne weiteres planen kann, zum Beispiel die Gründung einer Familie in England, empfindet sie als bedrückend. Nach Vorstellungen der britischen Regierung muss sie fünf Jahre praktisch ununterbrochen im Land gelebt haben, um sich für eine Daueraufenthalts-Genehmigung zu qualifizieren.
Bisher kommt sie nur auf drei Jahre. Was aber werde in den nächsten zwei Jahren geschehen? "Werde ich das Land noch verlassen können, um nach meinem Vater in Straßburg zu sehen? Wird er hierherkommen können, wenn Großbritannien die EU verlässt?"
Als größte europäische Einwanderergruppe haben sich die fast 900.000 Polen auf der Insel in der Folge des Referendums die übelsten Attacken zugezogen: Gehässige Kommentare, tätliche Angriffe haben sie erdulden müssen, von Tag zu Tag. Flugblätter mit der Aufschrift "Haut ab, ihr polnisches Ungeziefer" sind durch Briefkastenschlitze geschoben worden. Das Polnische Zentrum in Hammersmith, in West-London, fand sich zeitweise mit hässlicher Graffiti beschmiert.
Die Direktorin des Zentrums, Joanna Mludzinska, erinnert sich sehr wohl an diese "betrüblichen Dinge" - streicht aber auch die Solidaritätsbekundungen vieler Briten zu jener Zeit heraus. Umso problematischer ist es heute für sie, dass noch immer keine Lösung gefunden worden ist für EU-Bürger in Britannien, dass noch immer "solche Unklarheit herrscht".
Ein erhebliches Maß an "Entfremdung" habe die Ungewissheit geschaffen, warnt die Leiterin des Polnischen Zentrums. In einer zunehmend gespaltenen britischen Gesellschaft fänden manche Polen es zunehmend schwer. Es sei wohl wahr, dass in den letzten Monaten mehr ihrer Landsleute Großbritannien verlassen hätten und weniger als früher Richtung Insel zögen. Von einem "drastischen Schwund" an Polen ist in der britischen Presse die Rede zur Zeit.
Genaue Statistiken gebe es zwar nicht, und über die Motive Einzelner könne man nur spekulieren, meint Joanna Mludzinska. Sie stimmt aber zu, dass vielen Polen das neue Klima und die bedrohliche Ungewissheit den entscheidenden Anstoß zur Rückwanderung gäben. "Manche denken: Ich hab gut verdient, hab mir was auf die Seite gelegt. Jetzt kann ich genauso gut meine Koffer packen und wieder nach Hause ziehen."
Schwieriger sei es "für all die, die Familien gegründet haben, die vielleicht eine Wohnung oder ein Haus gekauft haben, die sich hier ansässig fühlen". Die warteten offensichtlich erst einmal ab, was weiter passiert. Falls es aber überhaupt keinen Deal gibt? Falls die Brüsseler Verhandlungen scheitern sollten? "Ich glaube, jeder versucht nach Kräften, an so was nicht zu denken. Jeder hofft nur, dass sich alles irgendwie von selber löst..."
Auch für Axel Antoni ist das Referendumsergebnis ein Schock gewesen. Auch für ihn "stand die Welt kopf" am Morgen nach der Wahl: "Ich bin durch die Straßen gegangen, hab den Leuten ins Gesicht geschaut und mich gefragt: Bin ich nun noch willkommen hier oder nicht?"
Und auch er vertraute den "großen Tieren" der Brexit-Riege, Leuten wie Boris Johnson, die vor der Volksabstimmung versichert hatten, für EU-Bürger in Großbritannien werde sich nichts ändern. Aber wenig später begann es ihm zu dämmern, dass es da "ein echtes Problem" gab, "für das niemand eine Lösung hatte".
Das war der Zeitpunkt, an dem die 3,2 Millionen erstmals zu "bargaining chips", zu einem politischen Unterpfand, wurden auf der Insel: "Da haben die uns zu verstehen gegebenen: Wir machen euch zur Verhandlungssache. Und eure Rechte schränken wir vielleicht ein."
Seit 18 Jahren ist der deutsche Firmenberater in England zuhause. Er hat hier studiert, sich vor zehn Jahren mit einer Britin verheiratet, die Kinder sind acht und fünf Jahre alt. "Meine Kinder sind mir einen Schritt voraus", sagt er. "Die haben britische Pässe." Er selbst hat sich kürzlich durch das 85-Seiten-Antragsformular für Daueraufenthalt gequält, das bisher nur Nicht-EU-Bürger ausfüllen mussten: "Seit März warte ich auf den Bescheid." Alle 150.000 Europäer, die es wie Axel Antoni gemacht haben, die sich absichern wollten, dürfen nun freilich das Ganze gleich noch einmal machen und auch noch einmal eine zweite Gebühr entrichten, weil die Regierung jetzt ein neues, einfacheres Formular für EU-Bürger herausgeben will. Was hält er von dem "großzügigen" Angebot Mays, wie die Premierministerin es nennt?
"Es ist ein Minimalangebot", sagt er. "Mit zeitlicher Begrenzung." Offenbar solle man dankbar dafür sein, dass man nicht deportiert und nicht vom Sozialsystem abgeschnitten wird. Allerdings könne man nicht einmal sicher sein, dass es dabei auch bleibe: "Ohne internationalen Schutz stehen wir vollkommen schutzlos da." Das, meint Antoni, lehre ein Blick auf die Lage der zugewanderten Commonwealth-Bürger: "Deren Rechte sind seit 1962 immer mehr eingeschränkt worden - erst langsam, dann immer schneller. Und die haben keine Gerichtsbarkeit, die ihnen Schutz gewährt." Nun sollten die EU-Bürger "aufs gleiche niedrige Niveau herunter gezogen werden".
Kein Wunder, dass es an Vertrauen in die britische Politik, in die Regierung fehle: den 3,2 Millionen Europäern im Lande und ihren vielen britischen Angehörigen ebenso wie der EU. Bargaining chips? Unerwünschte Ausländer? Verdächtige Migranten? "Wir alle sind hierhergekommen, ohne dass je einer von uns gedacht hat, dass so etwas wirklich passieren könnte."
Auf 3,2 Millionen wird die Zahl der nicht-britischen EU-Bürger im Vereinigten Königreich geschätzt. Umgekehrt leben etwa 1,2 Millionen Briten in anderen EU-Ländern. Für die Post-Brexit-Ära hat die EU diesen Briten volle Bürgerrechte und komplette Bewegungsfreiheit in der EU angeboten. Das Angebot Londons für "die drei Millionen" nimmt sich etwas bescheidener aus.
Wer weiter bleiben will, muss fünf Jahre "kontinuierlich" in Großbritannien gelebt haben und einen Antrag auf permanentes Wohnrecht stellen. Wer dieses Recht zugesprochen bekommt, behält den Zugang zum Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Rentensystem des Landes. Der "settled status", der Status als "Angesiedelter", verlangt allerdings, dass man sich registrieren lässt, und höchstwahrscheinlich auch, dass man mit einem speziellen Ausweis versehen wird - während "normale" Briten keine Ausweise brauchen.
Außerdem soll es Einschränkungen geben. Wer das Land für mehr als zwei Jahre verlässt, verliert den Anspruch auf Bleiberecht. Und Familienangehörige, die nach dem Brexit ins Land kommen, sollen ähnlichen Auflagen unterliegen wie die Nicht-Europäer schon jetzt. Keine Garantie soll es dafür geben, dass der "settled status" in dieser Form in Zukunft erhalten bleibt. Künftige britische Regierungen könnten alles wieder nach Belieben ändern. Kein Europäischer Gerichtshof soll als Garant hinter den EU-Bürgern im Lande stehen.