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Meine Werte - Deine Werte

Von Werner Reisinger und Jan Michael Marchart

Politik
© Christoph Liebentritt

Anderen "unsere Werte" vermitteln, schön und gut. Was aber genau sind "unsere Werte"? Der Versuch einer Spurensuche.


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Wien. Geht es nach Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), werden anerkannte Flüchtlinge in Zukunft neben Deutschvokabeln auch österreichische Werte pauken. Themen wie die Gleichheit der Geschlechter oder die Religionsneutralität stehen dabei auf dem Unterrichtsplan. Weigern sie sich, wird die Mindestsicherung und damit die momentan einzig greifbare Lebensgrundlage gekürzt. Super, applaudieren die einen. Ein weiterer Schritt zur Ausgrenzung, monieren die anderen. Man solle die Vorschläge diskutieren, sagt Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ). Vieles, wie die Kürzung der Mindestsicherung, sei aber schon jetzt möglich.

Heimische Werte? Was ist das eigentlich? Wo soll man zu suchen beginnen? Vielleicht in einem klassischen "Tschocherl" im dritten Wiener Gemeindebezirk. Hier trifft man auf die, die gemeinhin als das einheimische Pendant zu jenen "bildungsfernen Schichten" gelten, um die es in der Integrationsdebatte so oft geht. Einem Postler und einem Arbeiter, die mittags bei Bier und Pfeife sitzen, fällt es schwer, die eigenen, die heimischen Werte aufzuzählen. Vielleicht, dass man eine Frau nicht so behandelt, wie "dort unten", erklärt er. Syrien, Afghanistan, dort sei, was das betrifft, noch Luft nach oben. In Österreich kläre man Dispute nicht mit Gewalt, sondern über den Rechtsweg. Was ist mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Trennung von Staat und Religion?

"Sonst haben sie keine Chance"

"Ja, die Religion ist sicher ein Thema", sagt der Postler. "Aber nur, wenn sie es extrem ausleben. Wenn sie ihr Ding machen und ich meines machen kann, ist es mir egal. Aber wir sind halt Christen, so ist das nun mal." Es geht mit anderen Worten um die Distanz, dem anderen nicht vorzuschreiben, was er tun darf und was nicht. Deutsch, das sei auch ein Wert. Das müssten sie lernen. Nicht aus Zwang, nein, um leichter eine Arbeit zu finden und an der Gesellschaft teilzunehmen. "Sonst haben die keine Chance."

"Bei den Türken ist mir aufgefallen, dass vor allem ältere Frauen ein Problem haben", sagt der Postler dann. "Ihr Mann sagt ihnen, dass sie kein Deutsch brauchen. Die können nicht einmal alleine einkaufen gehen. Das machen meist die Kinder, die hier aufgewachsen sind." Damit würden sie sich von der Gesellschaft ausklammern. Ist es vertretbar, Flüchtlingen die Mindestsicherung zu kürzen, wenn sie sich weigern, Deutsch und Werte zu büffeln? Der Postler nickt. "Es soll schon einen Anreiz geben, sich zu engagieren." Dort drüben, sagt er, in der Asylunterkunft, sitzen sie den ganzen Tag herum. Junge Leute, Flüchtlinge. Und am Abend, da "tschechern sie sich nieder", mit Wodka. Und machen Dreck. Sauberkeit, das gelte es zu vermitteln. Das sei auch ein Wert.

Kein Job für Mohammed

Der Wiener Brunnenmarkt, ein Klischee. Ein Ort, der durch Fernsehbilder und Reportagen aufgeladen ist mit all dem, was man landläufig unter den Begriffen Integration und Vielfältigkeit versteht. Fernab jeder sozialromantischen Vorstellung ist der Brunnenmarkt ein Ort der Begegnung, im Brunnenviertel lebt man miteinander, nebeneinander, manchmal auch gegeneinander. Wer nach Wertvorstellungen sucht, könnte man meinen, wird hier derer so viele finden, wie kaum an einem anderen Ort in Wien.

Aber über Werte will hier niemand sprechen. Wie eine unsichtbare Mauer scheint das, was seit Tagen Europa in Atem hält, zwischen Fragenden und Befragten zu stehen. Sehr viele, die an diesem Freitagvormittag ihre Waren feilbieten, sind Muslime. Sie fühlen sich von der Debatte über Werte ins Eck gestellt. Sie wissen genau, dass sie, vor allem ihre Religion, jetzt im Fokus stehen. Wieder einmal. Sprechen will nur ein Mann aus Ägypten. Er ist wütend.

"Seit 26 Jahren lebe ich jetzt in Österreich. Ich habe im Jemen gearbeitet, in Syrien, im Irak. Überall haben sie mein Diplom anerkannt, nur hier nicht", erzählt er. Die Menschen hier suchen vor allem Arbeit und sozialen Aufstieg. Jetzt kämen wir Journalisten nur Tage nach den Pariser Attacken und wollen mit ihnen über Werte sprechen. Auch sein Sohn suche Arbeit. Dieser habe alles daran gesetzt, Buchhalter zu werden, sein Deutsch sei hervorragend. Aber: "Wenn er Arbeit sucht, fragen sie nach seinem Namen. Mohammed? Wiederschauen!"

Wieso braucht es also Werteschulungen? Natürlich sei es nicht mit einem achtstündigen Kurs getan, ist der Soziologe Kenan Güngör überzeugt. "Unsere Werte werden aber im Deutschkurs in einer bewussten Beiläufigkeit weiter näher gebracht. Neben dem Erlernen der Sprache wird dann weiter über unser Zusammenleben in Österreich gelehrt und diskutiert." Die Schulungen brauche es nicht, "weil manche Menschen gut und andere schlecht" sind, sagt Güngör. "Sie machen ihre Erfahrungen dort, wo sie aufgewachsen sind. Etwa in einer Diktatur oder in einem autoritären Staat." So etwas wie Rechtsstaatlichkeit gebe es in einigen Ländern nicht. Was diese bedeute, müsse den Leuten vermittelt werden. Man können den Menschen nicht vorwerfen, dass sie völlig andere Familienkonzepte hätten, etwa was das Zusammenleben und das Verhältnis zwischen Mann und Frau angehe. Güngör: "Einfach zu sagen, dass brauche man nicht, ist das Ignoranz gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den Flüchtlingen. Dass auch Österreicher Probleme mit Werten haben, ist richtig. Das eine legitimiert aber das andere nicht."

Beim Lehren könne man aber vieles falsch machen. "Wir leben nicht im Reich der Schönen, und sie kommen nicht aus dem Land der Zurückgebliebenen." Das Konzept der Werteschulungen sei "infiziert von der völligen Überforderung", sagt der Philosoph und Autor Franz Schuh. Man greife zu einem theoretischen Konzept, weil man "praktisch keine Ahnung hat".

Vielleicht ist es interessant zu fragen, woher diese Ahnungslosigkeit kommt? Schuh: "Eine Ursache ist, dass Österreich im Windschatten der Geschichte segelt. Wir waren in nahezu neurotisierter Weise in Sicherheit. Und jetzt kommt etwas auf uns zu, das unsere Sicherheit in äußerster Gefahr erscheinen lässt." Die Politik verfalle in Scheinaktivität.

"Ich bin aber der Letzte, der daraus einen Vorwurf schmiedet. Ich hoffe nur, dass das, was jetzt pseudoaktiv getan wird, weniger schadet und mehr nützt. Nach meiner Meinung ist es etwas, das nicht schadet. Und das ist in der augenblicklichen Situation schon viel mehr, als viele andere Gesellschaften in einer ähnlichen Lage erreichen. Das Nicht-Identische identifizieren und zur Deckung bringen: das kann man sich schon vorstellen, als Ziel."