Paläoanthropologe Bence Viola: Biologie kommt mit Kultur nicht mit.
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"Wiener Zeitung": Die Entwicklung des Menschen ist von Anpassung geprägt, die Evolutionsforschung integriert laufend neue Erkenntnisse. Seit kurzem wissen wir, dass der moderne Mensch nicht vor 50.000 sondern schon vor 125.000 Jahren Afrika verließ und neben Neandertaler und Homo Sapiens der Denisova-Mensch die Erde bevölkerte. Wie gut kennen wir unsere Herkunft?
Bence Viola: Wie haben Unmengen von Lücken, es kommen ständig neue Mosaik-Steinchen dazu. Niemand konnte wissen, dass wir im sibirischen Altai-Gebirge auf zwei Fingerglieder und einen Backenzahn stoßen würden, die die Existenz der Denisovan belegen, die vor 40.000 Jahren dort lebten und deren engste Verwandte die Neandertaler sind.
Davor dachte man, dass in diesem Raum nur Neandertaler lebten, die sich nach ihrer Entstehung in Europa nach Asien ausbreiteten. Nun wissen wir, dass sie im Altai nur kurz vor 50.000 bis 40 000 Jahren lebten. Auch die Existenz anderer, unbekannter Menschengruppen können wir nicht ausschließen. Unsere Theorie ist auch, dass der Fund aus der Denisova-Höhle nur der Rand der Verbreitung ist und die Denisovan auch in Südostasien lebten, obwohl dort ab vor 50.000 vor Christi wegen des feuchten, warmen Klimas keine Knochen erhalten sind.
Was unterstützt Ihre These?
Alle modernen Menschen außerhalb von Afrika haben zwei bis drei Prozent ihres Erbguts vom Neandertaler. Die Melanesier und die australischen Ureinwohner haben zudem vier bis fünf Prozent vom Denisovan. Wir gehen davon aus, dass die Denisovan in Südostasien moderne Menschen trafen, die auf dem Weg nach Australien waren. In China existieren zudem Funde, die als "archaischen Homo Sapiens" bezeichnet wurden, es könnte sich um Reste von Denisovan handeln. Allerdings haben die guten chinesischen Funde keine Zähne, und wir haben von China noch keine DNA bekommen, um unsere These zu bestätigen.
In der Schule wird gelehrt, dass sich die Arten nicht vermischen. Welchen Vorteil hatten unsere Ahnen davon, es doch zu tun?
So manches, was wir in der Schule lernen, erweist sich als unrichtig. Bei Eichhörnchen gibt es Beispiele für Hybridisierung verschiedener Arten, ebenso wie Eisbären teilweise mitochondriale DNA (das Erbgut in den Mitochondrien, die für die Zellteilung verantwortlich sind) von Braunbären haben, die sie durch Vermischung erhalten haben müssen. Der Vorteil für den Prozess der Selektion ist eine höhere Variabilität, die die Wahrscheinlichkeit von idealen Mutationen erhöht. Bei Genen für die Immunantwort brachte uns unsere Vermischung mit dem Neandertaler Vorteile.
Wie verändern diese neuen Erkenntnisse unsere Vorstellungen vom modernen Menschen?
Rassisten haben behauptet, dass die Europäer die besseren Menschen sind, weil sie im Unterschied zu den Afrikanern Gene von den Neandertalern dazubekommen haben. Noch wissen wir aber viel zu wenig über die Funktionen der Gene und des Gehirns, als dass wir hierzu valide Aussagen machen könnten. Diese Frage können wir vermutlich erst in 50 Jahren stellen. Alles andere wäre, als würden wir Schädel vermessen und behaupten, dass Menschen mit größeren Köpfen intelligenter seien.
Welchen Einfluss hat der Wohlstand auf die Evolution?
Aspekte des Wohlstandes unterliegen nur einer kurzfristigen Selektion, die sich innerhalb von wenigen Generationen ändern kann. Die Tatsache, dass reiche Individuen schwerer sind als arme und junge Erwachsene größer als ihre Großväter, ist nicht genetisch, sondern umweltbedingt. Ich habe zwar einen Vorteil bei der Partnerwahl, wenn ich wohlgenährt und groß bin, und somit haben meine Kinder das genetische Potenzial, größer zu werden - jedoch nicht unbedingt und nur, wenn sie auch viel essen. Schon vor 40.00 Jahren gab es Jäger und Sammler, die 1,85 Meter groß waren. Und aus dem mittleren Pleistozän haben wir Reste, die uns annehmen lassen, dass diese Individuen 100 Kilo schwer waren. Diese Entwicklungen gibt es immer. Erst wenn sie über zigtausende Jahre passieren, weil genug Selektion da ist, werden sie genetisch.
Heute können nur wenige Menschen jagen, nicht alle Kinder auf Bäume klettern. Haben wir Basis-Kulturtechniken verlernt?
Diese Techniken können wir innerhalb einer Generation wieder erlernen, ihr Verlust ist eine kulturelle Entwicklung.
Wir werden aber dicker und haben immer mehr Zivilisationskrankheiten. Entwickeln wir uns zurück?
Die Evolution hat keine Richtung. Kulturelle Entwicklungen können jedoch einen Selektionsdruck auslösen. Etwa nahm mit der Ausbreitung der Viehwirtschaft die Zahl der Menschen mit Lactose-Toleranz zu. Im Laufe des Neolithikums war es von extremem Vorteil, ein Gen zu entwickeln, das Milchprodukte verwerten kann. In Südostasien war nie derselbe Selektionsdruck da wie in Europa, weil es dort andere Proteinquellen gab. Oder anders gedacht: Gäbe es weniger medizinische Versorgung und dadurch kein Insulin zum Spritzen, wäre erblicher Diabetes bald ausgerottet, die Gen-Variante würde mit den Betroffenen aussterben.
Werden wir mit zunehmender Zivilisation immer weniger fit?Der Mensch hat schon immer seine Schwächen kompensiert: Unsere Zähne sind viel kleiner als jene anderer Lebewesen, weil wir Steinwerkzeuge und Feuer entwickelt haben. Wir können in kalten Regionen leben, weil wir Gewand erfunden haben. Das macht den Menschen zum Menschen. Wir haben eine duale Evolution: eine biologische und eine kulturelle.
Wohin geht die Evolution, wie wird der Mensch der Zukunft sein?
Die Selektion wird schwächer und sich auf andere Dinge konzentrieren. Ich vermute, dass wir als viel denkend und möglichst Langweile-resistent selektiert werden: Wenn Maschinen alles für uns machen, müssen wir uns selbst beschäftigen. Allerdings besteht eine gute Chance, dass wir unsere eigene Evolution nicht erleben werden, weil wir uns vorher selbst ausrotten - die biologische Evolution kommt der kulturellen nicht nach. In der biologischen Evolution sind 100 Jahre eine Sekunde, während sie in der Kultur den Unterschied zwischen der Dampflok und Atomwaffen ausmachen. Auch Zivilisationskrankheiten beruhen darauf, dass wir uns kulturell schneller entwickelt haben als biologisch.
Gesetzt den Fall, es gäbe keine Kriege, wir würden den Klimawandel stoppen: Könnte sich auf der Erde eine neue Menschenart entwickeln?
Wohl kaum, denn Isolation ist einer der wichtigsten Faktoren. Wenn wir 10.000 Menschen auf den Mars bringen würden und dann 50.000 oder 100.000 Jahre keinen Kontakt mit ihnen hätten und sie neuen Selektionsdrucken ausgesetzt wären, dann wäre die Bildung einer neuen Art möglich. Auf der Erde vermischen sich die Menschen hingegen ständig - seit sie reisen, können sie ihre Gene innerhalb von 24 Stunden am anderen Ende der Welt hinterlassen. Wir sind genetisch auf der ganzen Welt miteinander verbunden. Da kommt die biologische Evolution nicht mit.
http://www.ist.ac.at/young-scientist-symposium-2012