Mensch und Tier auf engem Raum – das funktioniert nur mit Haustieren gut. Doch wo es um Wildtiere geht, sieht die Sache schon ganz anders aus.
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Die Tatsache, dass Menschen und Tiere sich denselben Lebensraum auf diesem Planenten teilen, hat zum Teil gravierende Auswirkungen auf ihre Beziehung zueinander. Seit der Mensch die Erde bevölkert, hat er sukzessive mehr und mehr Platz für sich beansprucht. Heute hat dieser Anspruch einen kritischen Punkt erreicht, der zu Lasten vor allem der Wildtiere geht und von vielen Wissenschaftern bereits als das sechste Massenartensterben bezeichnet wird. Es steht in engem Zusammenhang mit der Zerstörung von Land zur Schaffung von Weide- und Anbauflächen, dem Wachsen der Städte und der Überfischung der Ozeane - Ökosysteme sind längst aus dem Gleichgewicht geraten und die Frage stellt sich: Wie viel Platz steht Menschen und Tieren jeweils zu und wie wollen wir in Zukunft mit unseren biologischen Verwandten umgehen?
Eine kleine Wildschweinrotte, die sich nächtens auf der Straße in einem Wiener Vorortbezirk herumtreibt, ein Fuchs, der in einem Vorgarten einen Bau gegraben hat – oder im Dorf den Hühnerstall plündert. Wölfe, die sich langsam wieder in Österreich ansiedeln, Braunbären, die gelegentlich hierzulande vorbeischauen – Wildtiere geraten immer mehr in den Fokus der Bevölkerung und der Wissenschaft. Schaut man sich in anderen Ländern um, findet man in Südostasien Elefanten, die sich in von Menschen angelegten Reisfeldern gütlich tun, Leoparden, die im indischen Mumbai durch die Straßen wandern, Eisbären, die in kleinen Siedlungen auf der Suche nach Nahrung sind, Mustangs, die den Farmern in den USA zu nahe kommen oder Kängurus, die den australischen Farmern ein Dorn im Auge sind.
Die Lebensräume der Wildtiere schrumpfen in erschreckendem Ausmaß und ihre einzige Möglichkeit, Nahrung zu finden, besteht oft nur darin, sich in die Nähe menschlicher Behausungen zu wagen. Doch das Reisfeld bedeutet für den Bauern Nahrung für ein ganzes Jahr, die Zerstörung desselben also Hunger; der Eisbär ist eine tödliche Gefahr für den Mensch und wenn der Wolf ein Schaf reißt, erleidet der Schafzüchter einen Verlust.
Seit der Wolf vermehrt nach Österreich einwandert – man geht von derzeit rund 20 Tieren aus – wird die Diskussion um den großen Beutegreifer hitzig. Bauern fürchten um ihre Tiere auf den Weiden und fordern mittlerweile oftmals den Abschuss der Wölfe. Doch das in Europa streng geschützte Raubtier ist durchaus eine Bereicherung der Natur, ist etwa der World Wildlife Fund (WWF) überzeugt. Einerseits wirke sich seine Anwesenheit positiv auf die Gesundheit des Wildbestandes aus, denn der Wolf holt sich vor allem schwache oder kranke Rehe, Hirsche oder Gämsen, wodurch sich nur die starken, gesunden Tiere vermehren. Andererseits fördere die regelmäßige Anwesenheit eines Wolfes das Entstehen von verbissfreien Stellen, da sich die Wildbestände im Wald verteilen und nicht nur an einer Stelle äsen. Dadurch können sich empfindliche Baumarten wieder verbreiten.
Den vielfach geforderten Abschuss als Management-Maßnahme, um Viehherden zu schützen, lehnen Wolfsbefürworter ab, denn er sei kontraproduktiv, wie eine Studie der Washington State University aus dem Jahr 2014 gezeigt habe: Je mehr einzelne Wölfe erlegt wurden, desto mehr Herdentiere fielen im Folgejahr den Beutegreifern zum Opfer. Der Abschuss eines Elterntieres – was einen massiven Eingriff in die Sozialstruktur einer Wolfsfamilie bedeutet - führt dazu, dass die jüngeren Wölfe wegen ihrer fehlenden Erfahrung auf leichter zu erbeutende Tiere wie Schafe oder Ziegen ausweichen müssen. In Slowenien mit einem geschätzten Bestand an 50 Wölfen, hat man ähnliche Erfahrungen wie in den USA gemacht: Dort werden nun die Weiden, auf denen besonders viele Schäden entstanden sind, besser geschützt. Die dauerhafte Rückkehr der Wölfe kann also funktionieren, wenn sie ausreichend Nahrung und ungestörte Gebiete finden, aber vor allem, wenn sie geduldet werden. Denn als Fleischfresser, der sich zwar hauptsächlich von Wild, aber eben manchmal auch von einzelnen Nutztieren ernährt, wird seine dauerhafte Wiederansiedelung naturgemäß immer wieder auf Widerstand stoßen.
Als ungefährlich, wenn auch manchmal lästig, nehmen Menschen dagegen Füchse oder Wildschweine in ihrer unmittelbaren Umgebung war – obwohl gerade letztere sehr wohl äußerst aggressives Verhalten an den Tag legen können. So entwickeln sich etwa die Wildschweinbestände in Wien-Donaustadt immer mehr zum Problem. Hier versucht das Forstamt (MA 49), die Tiere mit Lebendfallen einzufangen und sie dann in unbesiedeltem Gebiet wieder freizulassen.
Auch Füchse sind längst kein seltener Anblick in Städten. Vor einiger Zeit erregte ein Foto eines Fuchses in Berlin, der in einen Bus einsteigen wollte, Aufsehen. In Wien suchte vor wenigen Monaten ein Fuchs beim Ottakringer Bahnhof nach Futter - denn das lässt sich in der Stadt viel einfacher beschaffen als im Wald. Und schließlich Meister Reineke wird nicht nur im Abfall fündig, auch Ratten, Mäuse und Tauben – Tierarten, die den Menschen gefolgt sind, sogenannte Kulturfolger – sind hier eine leichte Beute. Es herrscht Unsicherheit im Umgang mit Wildtieren im urbanen Raum. "Füchse sind in der Stadt keine Gefahr, aber sie können unverschämt werden, wenn sie merken, dass ihnen selbst keine Gefahr droht", so Hans Frey von der Organisation "Vier Pfoten". Und so kommt es eben vor, dass die Tiere plötzlich im Hauseingang oder auf der Terrasse stehen. Tollwut ist dagegen aktuell kein Thema, Österreich ist seit 2008 tollwutfrei.
Dramatischer ist es für Tiere, die nicht aus Bequemlichkeit menschliche Ansiedelungen aufsuchen, sondern weil sie keine andere Möglichkeit haben, an Nahrung zu kommen, so wie etwa die bereits erwähnten Elefanten vor allem in Südostasien. Durch die ständige Verkleinerung und Zerstörung ihres Lebensraumes werden auch ihre Nahrungsressourcen zerstört und das Reisfeld ist oft die naheliegendste Ausweichmöglichkeit. Dass der Elefant damit die Nahrungsgrundlage des Bauern zerstört, ist ihm natürlich nicht bewusst, dennoch hat seine Aktion oftmals seinen eigenen Tod zur Folge. Was mittlerweile so häufig vorkommt, dass der Elefant in diesen Regionen als gefährdet gilt. Noch schlimmer steht es um einen unserer nächsten Verwandten, den Orang-Utan. Der weltweit rasant steigende Bedarf an Palmöl hat dazu geführt, dass die Regenwälder Borneos und Sumatras, der Heimat des großen Menschenaffen, rücksichtslos abgeholzt oder niedergebrannt werden, um dort Ölpalmen zu pflanzen. Der Borneo-Orang-Utan wird auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN als "vom Aussterben bedroht" eingestuft.
Der illegale Handel mit Jungtieren, die auf den beiden indonesischen Inseln Java und Bali als Haustiere beliebt sind, ist eine große Bedrohung für das Überleben der Art. Pro Jahr werden im indonesischen Teil Borneos bis zu 1200 Tiere der Wildnis entnommen. Außerdem haben Holzeinschlag und die Umwandlung von Regenwald in Ackerland und Ölpalmenplantagen in den letzten 30 Jahren dazu geführt, dass die Orang-Utans 80 Prozent ihres Lebensraumes verloren haben.
In Indien begegnen die Bewohner Mumbais immer öfter Leoparden. Die Ausweitung der Stadt und der Verlust ihres Lebensraumes durch Ackerbau und Viehzucht bringt die großen Raubkatzen dazu, ihre Streifzüge gezwungenermaßen in die Millionenmetropole zu verlegen. Organisationen wie zum Beispiel die "Wildlife Conservation Society" arbeiten seit Jahren daran, das Konfliktpotenzial zu minimieren und sowohl Menschen als auch Leoparden zu schützen – mit Erfolg, wie die Ökologin Vidya Athreya vor wenigen Monaten beim Internationalen Tierschutzgipfel in Wien erzählte. Denn es könne nur miteinander gehen, Biodiversität sei der Kernpunkt einer lebensfähigen Erde im Gleichgewicht.
Bei derselben Veranstaltung sprach Paul Waldau, Professor am Canisius College in Buffalo, New York, und an der Schnittstelle von Tierwissenschaft, Recht, Ethik, Religion und Kulturwissenschaft tätig, von einer "essentiellen Verbindung von Menschen und anderen Tieren". Der Mensch habe vergessen, dass seine nicht-menschlichen Mitbewohner das gleiche Recht auf Leben auf diesem Planeten haben wie er selbst. Er betonte, dass der Mensch primär und rein biologisch ein Säugetier, ein Primate und ein Wirbeltier sei, ein Mitglied einer tierischen Spezies unter vielen anderen. Deshalb dürfe weder die menschliche Lebensrealität noch die aller anderen Spezies negiert werden. Ein Anspruch, der zweifellos unsere Ethik und unsere moralischen Grundsätze herausfordert und endlich ein massives Umdenken im Umgang mit Fauna und Flora in Gang bringen sollte…