Mahnmale, die an vergangene Verbrechen - vor allem aus der NS-Zeit - erinnern sollen, sind oft problematisch und nicht weit von Kitsch entfernt. Eigentliche "Erinnerungsarbeit" sieht anders aus.
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Blicke ich aus dem Küchenfenster einer Bekannten, dann fällt mein Blick auf eine Shopping-Landschaft mit all den Supermärkten und Möbelhäusern, die sich in Österreich in jedem größeren Ort finden. Nichts erinnert mehr daran, dass sich hier während der NS-Zeit ein Kriegsgefangenenlager befand, in welchem 3700 sowjetische Kriegsgefangene umkamen.
Wer immer sich mit der NS-Zeit beschäftigt, ist in nahezu jedem Ort, selbst in kleinsten Gemeinden, mit Zwangsarbeit oder Euthanasie konfrontiert. Lange Zeit wurden die Verbrechen der NS-Zeit nur mit Auschwitz und anderen Vernichtungslagern assoziiert. Heute wissen wir, dass diese ihr Kapillarsystem kannten, ihre Verästelungen bis hinein in kleinste Gemeinden.
Kräuter und Platten
Das 1968 in der Vorarlberger Gemeinde Silbertal errichtete Kriegerdenkmal geriet 2007 in die öffentliche Kritik, als bekannt wurde, dass unter den Gefallenen des Zweiten Weltkrieges auch Josef Vallaster genannt wurde, der ab April 1940 im Rahmen der Aktion "T4" in der NS-Tötungsanstalt Hartheim an der Ermordung Behinderter beteiligt war. Später beaufsichtigte er im Vernichtungslager Sobibór die Vergasung und Verbrennung zumeist jüdischer Menschen aus ganz Europa. Die Zahl der in Sobibór Ermordeten wird auf 150.000 bis 250.000 Menschen geschätzt. Vallaster wurde 1943 bei einem Häftlingsaufstand getötet.
Die Gemeinde reagierte zunächst ablehnend, entschied sich dann aber für die Einrichtung einer Geschichtswerkstatt, schlussendlich für die Entfernung des Kriegerdenkmals und die Errichtung eines Mahnmals. Dieses Mahnmal besteht aus Heilkräutern und Steinplatten. Bei den Steinplatten fällt einem das Holocaustmahnmal in Berlin ein, nur dass wir es hier mit einer Miniaturisierung zu tun haben. Die "Heilkräuter" sollen "die Wunden des Krieges" symbolisieren. Hartheim wie Sobibór lassen sich keinesfalls unter "Wunden des Krieges" subsummieren, ging es doch da wie dort um eine systematisch betriebene Vernichtung von Menschen. Wenngleich die damit verbundenen Auseinandersetzungen wie die Arbeit der Geschichtswerkstatt Anerkennung verdienen, wirkt das Mahnmal wie ein Versuch, etwas eben Aufgebrochenes zu plombieren und endlich zur Ruhe zu bringen.
An vergleichbaren Beispielen mangelt es nicht. Auf dem Landhausplatz in Innsbruck erinnert ein Mahnmal an die Opfer der "Reichskristallnacht", während der in Innsbruck besonders brutal gegen jüdische Mitbürger vorgegangen wurde. Ein Mahnmal war seit langem gefordert worden. Die Lösung war dann denkbar einfach (und sicher auch kostengünstig). Schüler wurden zu einem Wettbewerb geladen. Die Jury entschied sich für den Entwurf eines damals 19-jährigen Schülers. Auf einem kupfernen Sockel ruht in einer mit Kristallscherben gefüllten Schale ein siebenarmiger Menoraleuchter. In der Schalenumfassung wird namentlich an jene vier Personen erinnert, die während der Pogromnacht in Innsbruck umgebracht wurden. Die Scherben sollen "die zerbrochenen Herzen der ermordeten Juden und ihrer Angehörigen" symbolisieren.
Ob Heilkräuter oder Kristallscherben, Mahnmale dieser Art tendieren zur banalen Symbolisierung. Gewünscht war hier wie andernorts eine allgemeinverständliche Kunst, die auf Vertrautes setzt und Zustimmung findet, zumindest nicht abgelehnt werden kann. Dem Schüler, der den Wettbewerb für das Mahnmal auf dem Innsbrucker Landhausplatz gewonnen hat, ist kein Vorwurf zu machen, wohl aber Politikern, die sich mit Hilfe eines Schülerwettbewerbs um die Auseinandersetzung mit einer unangenehm nachwirkenden Vergangenheit gedrückt haben. Im Zuge der Neugestaltung des Landhausplatzes wurde das Mahnmal nicht nur besser positioniert, es wurde auch überarbeitet. Die Kristallscherben in ihrer ursprünglichen Form sind verschwunden.
Solche Mahnmale sind nicht weit von Kitsch entfernt. Birgit R. Erdle spricht in einem 1987 erschienenen Essay über Kitsch von einem tiefgreifenden Vergessen, welches sich im Sprechen, nicht im Schweigen vollziehe - und das Vergessen als Erinnern tarne. Das Mahnmal in Silbertal macht zwar, wie bereits erwähnt, deutlich, dass es sich bei Josef Vallaster nicht um ein Opfer, sondern um einen Täter handelt, aber es bleibt problematisch, wenn bei diesem korrigierten Kriegerdenkmal in einem Aufwaschen an die Gefallenen des Ortes, einen umgekommenen Flüchtling, an Opfer der NS-Euthanasie, der Zwangsarbeit und des Holocaust erinnert wird.
Ausdruck ihrer Zeit
Ähnlich fragliche Eingemeindungen finden sich dort, wo auf "Heldenfriedhöfen" oder Kriegerdenkmälern Euthanasieopfern gedacht wird. Diese teilen mit den Gefallenen des Zweiten Weltkrieges nur zwei Gemeinsamkeiten: Ihr Tod fiel in ein und dieselbe Zeit, und weder diese noch jene liegen hier bestattet. Euthanasieopfer waren vor allem eines nicht, nämlich Helden. Sie wurden gewaltsam abtransportiert und getötet.
Gedenkstätten und Mahnmale sind stets Ausdruck ihrer Zeit, ganz gleich, ob sie nach dem Krieg oder in der jüngeren Vergangenheit errichtet wurden. Die meisten Mahnmale wirken bereits nach kürzester Zeit verstaubt. In der zeitlichen Distanz wird deutlich, wie sehr sie der Rezeption der jeweiligen Generation unterliegen. Man kann sich die Frage stellen, wie heute errichtete Mahnmale, die eine ganz andere Zeichensprache kennen, in wenigen Jahren oder Jahrzehnten betrachtet werden. Vermutlich werden die meisten von ihnen ähnlich verstaubt wirken wie heute die meisten Denkmäler der 1950er Jahre.
Der in Innsbruck lebende Künstler Franz Wassermann war sich dessen in seinem komplex angelegten Projekt "Das temporäre Denkmal" bewusst. Dieses galt jenen 380 Opfern der Euthanasie, die in den Jahren 1940 bis 1942 von der damaligen "Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke in Hall in Tirol" nach Hartheim deportiert und dort ermordet wurden. Teil des Projektes war es, in allen Gemeinden, aus denen die Opfer laut Aktenlage stammten, einen Antrag zu stellen, Straßen nach den Opfern zu benennen. Etwa die Hälfte der 193 angeschriebenen Heimatgemeinden reagierte nicht auf das eingegangene Schreiben.
Abgesehen von wenigen Gemeinden waren die Reaktionen durchwegs ablehnend: In absehbarer Zeit würden keine weiteren Straßen benannt, man werde die Sache in Evidenz halten, die Straßen der Gemeinde würden nicht oder ausschließlich mit Flurnamen benannt, man habe davon Abstand genommen, weil Angehörige den Namen des Opfers nicht genannt haben wollten, die genannte Person scheine nicht im Geburtenbuch auf usw. Andere argumentierten damit, dass bereits ein Kriegerdenkmal bestehe. Ausgebliebene Antworten wie Ablehnungen sind als Teil der Arbeit zu verstehen. Wir haben es also mit Erinnerungsarbeit im eigentlichen Sinn zu tun.
Diesbezüglich sind inzwischen eine Reihe anderer Arbeiten zu nennen, wie etwa ein Schülerprojekt, welches sich mit dem KZ-Nebenlager Bretstein beschäftigte, oder das von Helmut und Johanna Kandl realisierte "Wächterhaus", welches an die Opfer in Aflenz bei Leibnitz erinnert, einem Außenlager des KZ Mauthausen.
Werden Mahnmale errichtet, so geht es nicht selten um den Beweis moralisch-politischer Korrektheit, um das Bemühen, endlich einen "Schlussstrich" unter die Geschichte zu ziehen. Erinnern lässt sich aber nicht einfach abschließen. Künstlerische Projekte, die diesem Umstand Rechnung tragen, überzeugen mehr als Lösungen, die vorgeben, es ließe sich etwas abschließen, sei einmal eine Skulptur aufgestellt und vielleicht noch mit Blumenarrangements behübscht. Der deutsche Künstler Jochen Gerz hat in vielen Arbeiten diese Akzentverschiebung deutlich gemacht: "Die Orte der Erinnerung sind Menschen, nicht Denkmäler."
Dies gilt besonders für Tatiana Lecomtes Projekt "Postkarten können wir eine pro Person schreiben", welches an jene ungarischen Juden und Jüdinnen und Gefangenen aus der Tschechoslowakei, Rumänien, Russland und Griechenland erinnert, die 1944 und 1945 in St. Pölten-Viehofen zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Viele kamen dabei zu Tode. An das Lager, in dem die ehemaligen "Ostarbeiter" untergebracht waren, erinnert heute fast nichts mehr. Auf einem Grundstück in Privatbesitz finden sich noch einige Ruinenreste, der größte Teil des Areals ist unter einem Badesee verschwunden.
Postkarten-Aktion
Tatiana Lecomte schickte 20.000 handschriftlich adressierte Postkarten mit Abbildungen heutiger Ansichten des ehemaligen Geländes, von denen manche mühelos auch als Urlaubspostkarten durchgehen könnten, an Haushalte in der Gegend. Auf der Rückseite, auch handschriftlich, ist der Satz zu lesen: "Ich bin gesund, es geht mir gut", also jener Satz, den Insassen von Lagern des Dritten Reiches, sofern sie überhaupt schreiben durften, beim Verschicken auf Briefen oder Karten notieren mussten.
Man sollte Mahnmale nicht leichtfertig errichten, ist doch damit eine Verpflichtung den Opfern gegenüber verbunden. Dieser Verpflichtung wird man nur durch eine genaue inhaltliche Auseinandersetzung gerecht. Daher empfehlen sich Autoren wie Jiří Weil oder Heimrad Bäcker, die sich angesichts der unvorstellbaren Gewalt, die Menschen angetan wurde, zutiefst bewusst waren, dass dies mit den Mitteln der Sprache oder der Kunst nur bedingt gelingen kann.
Unlängst saß ich abends in einem Innsbrucker Lokal. Eine Gruppe junger Burschen stand an der Bar. Ihr grölender und oft wiederholter Trinkspruch: "Alle Juden schreien hey . . ." Niemand schien sich daran zu stören. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich einzumischen. Ich ging an die Bar und sagte zu ihnen: "Ich bin Jude, aber ich schreie nicht hey . . ."
Zu meinem großen Erstaunen kam ich mit den Burschen in ein Gespräch. Zwei kamen später sogar an meinen Tisch, worauf ich mit ihnen über ihre Geschichte redete. Dann wurde alles sehr brüchig. Der Trinkspruch war nicht länger zu hören.
Bernhard Kathan, geboren 1953, lebt als Sozialwissenschafter, Publizist und Künstler in Innsbruck. Er arbeitet im Spannungsfeld von Kulturwissenschaft, Literatur und Kunst. www.hiddenmuseum.net