In Krisen blühen neue Formen der Solidarität. Aber eben auch das genaue Gegenteil.
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"Ja, diese Krise weckt unsere tiefsten Ängste", sprach am Donnerstag der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (selbstverständlich via Videobotschaft). "Aber sie ruft auch das Beste in uns hervor. Daran, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, müssen wir uns jetzt halten."
Das sind Sätze, die Staatsoberhäupter in Situationen von harter Prüfung und großer Not gerne sagen. Und es stimmt ja auch.
In Städten, die für viele nicht nur, aber eben auch wegen ihrer Anonymität geschätzt werden, ist über Nacht ein Netzwerk an Nachbarschaftshilfe entstanden. An "Gabenzäunen" finden sich Hilfesackerl für Obdachlose. Und "Gesund bleiben!" ist zum geflügelten Abschiedsgruß auch zu Unbekannten geworden.
Allerdings ist das nicht die ganze Geschichte. Die Wiener Polizei berichtet von mehreren Fällen, in denen Personen gedroht haben, andere durch Anspucken mit dem Coronavirus anzustecken. Der US-Virologe Anthony Fauci, der es als besonnener und faktenkundiger Gegenpart zu US-Präsident Donald Trump zu Prominenz gebracht hat, muss vom FBI beschützt werden. Der Grund sind Morddrohungen von fanatischen Trump-Fans, die es nicht ertragen, dass Fauci ihren Präsidenten korrigiert, ja ihm mitunter sogar offen widerspricht.
Solche Auswüchse menschlicher Niedertracht sind Teil unserer Natur. Der Mensch, und zwar jeder, ist prinzipiell zu allem fähig; es ist oft nur eine Frage der Rahmenbedingungen. Und trotzdem ist der gemeinschaftsstiftende Drang weit stärker. Allerdings sind auch damit Grenzen der Solidarität verbunden, die Menschen ein- und andere ausschließen. In Krisen zeigt sich das besonders deutlich, etwa wenn dringend benötigte und bereits bezahlte Schutzmittel festgehalten werden, weil man erst klärt, ob nicht im eigenen Land Bedarf besteht. Und auch die Hilfe für überforderte Staaten wie Italien, Frankreich oder Spanien kommt von besser aufgestellten (oder einfach nur glücklicheren) Nachbarn erst jetzt, als die unmittelbare Überforderung des eigenen Gesundheitssystems eher unwahrscheinlich wurde.
Man kann das als nationale Egoismen brandmarken. Aber es ist eben auch so, dass die gewählten Regierungen zuerst ihren eigenen Bürgern schutzverantwortlich sind und dann erst zur Hilfe anderer Notleidender schreiten. Dagegen kann man anreden und ankämpfen. Aber selbst wenn es je eine Weltregierung geben sollte (von der völlig unklar ist, wie und ob sie jemals demokratisch funktionieren könnte), wird es andere Formen des "wir" und "die anderen" geben. Weil das, nach allem, was wir über uns wissen, der menschlichen Natur entspricht.