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Menschenrechte greifen in Souveränität ein

Von Wendelin Ettmayer

Politik

Während der letzten 50 Jahre hat sich das internationale Umfeld der Außenpolitik, die Strukturen sowie das Wertbewusstsein wohl mehr geändert als die 500 Jahre vorher. Neben der neuen Legitimation und den neuen Playern in der Außenpolitik wurden gerade während der letzten Jahre zahlreiche nationale Aufgaben auf eine internationale Ebene übertragen, wodurch eine Vermengung von Innen- und Außenpolitik entstanden ist. Vom neuen Wertbewusstsein kann man wohl insofern sprechen, als sich der Begriff der Souveränität geändert hat und der Krieg, zumindest bei uns, nicht mehr einfach als eine Verlängerung der Politik mit anderen Mitteln angesehen werden kann. In dieser Folge geht es um die Auswirkungen der Menschenrechte auf die Souveränität.


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War es ursprünglich ein wesentlicher Teil der Souveränität, dass der Herrscher auch über seine Untertanen frei verfügen konnte, so kann man andererseits die Geschichte der Menschenrechte als Geschichte der Beschränkung der staatlichen Souveränität sehen: Galt die Souveränität jahrhundertelang als absoluter Wert und waren Menschenrechte eine innerstaatliche Angelegenheit, so griff im März 1999 die NATO einen souveränen Staat an, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Im selben Jahr entschieden in London die Law-Lords, dass Ex-Staatschefs wie der frühere chilenische Präsident Augusto Pinochet keine hinreichende Immunität genießen, um sich Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Ausland entziehen zu können. Wenn auch beide Entscheidungen einen sehr konkreten realpolitischen Hintergrund hatten und Pinochet letztlich wieder nach Chile fahren konnte, die Menschenrechte sind seit Ende des Kalten Krieges immer mehr ein Faktor der internationalen Politik geworden. Wie sonst wäre es möglich gewesen, dass man sich bei der Kosovo-Intervention "aus humanitären Gründen" sowohl über die staatliche Souveränität als auch über die Autorität der UNO hinweggesetzt hat?

Auch nicht-westliche Staaten sind sich der Bedeutung der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen immer mehr bewusst. So hat Algerien im März 2000 vier Menschenrechtsorganisationen, Amnesty International, Human Rights Watch, die Internationale Föderation für Menschenrechte und Reporter ohne Grenzen, eingeladen, um sich ein Bild von der Situation im Lande zu machen. Auch wenn sich der algerische Staatspräsident noch kurz vorher gegen eine Beeinträchtigung der nationalen Souveränität ausgesprochen hatte, so konnte die Einladung an die Menschenrechtsorganisationen doch als ein Anzeichen dafür gewertet werden, dass man die Zeichen der Zeit erkannt hatte.

Russische Zugeständnisse

Und auch wenn Russland den Krieg gegen Tschetschenien immer wieder als Kampf gegen Terroristen rechtfertigt, so musste man doch dem Drängen verschiedener internationaler Organisationen, NGOs und Intellektueller nachgeben und den Besuch der Hochkommissarin für Menschenrechte zulassen.

Die alte Regel, wonach ein Staat, in Ausübung seiner souveränen Rechte, gegen eigene Bürger willkürlich verfahren konnte, erscheint heute gründlich durchbrochen. Auch die Behandlung der eigenen Staatsbürger wurde eine Angelegenheit von internationaler Relevanz.

Internationale Ahndung von Kriegsverbrechen

Dem kann man natürlich entgegenhalten, dass die zahlreichen internationalen Verträge, die zu diesem Thema seit dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet wurden, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte miteinbezogen, vielfach nicht angewandt wurden. Aber immerhin: Zum ersten Mal werden nicht nur Staaten, sondern auch Personen verantwortlich gemacht; Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekommen immer mehr den Charakter von Vergehen, die international geahndet werden können.

Das "Jugoslawien-Tribunal" und das "Ruanda-Tribunal" sind dafür genauso ein Beispiel wie der Vertrag über die Errichtung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes. Wie lückenhaft all diese Initiativen auch noch sind, eines kann man wohl sagen: Die Souveränität ist kein absoluter Wert mehr.

Aufsplitterung von Staaten

In dem Ausmaß, in dem die staatliche Souveränität immer mehr zur Fassade wird, geschieht es auch, dass sich Nationalitäten aus einem Staatsverband loslösen und für selbstständig erklären. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte Europa kaum 20 Staaten, heute sind es über 40. Dabei hat der Zerfall der Sowjetunion eines gezeigt: Auch der stärkste Repressionsapparat ist nicht in der Lage, einen Staat zusammenzuhalten, wenn die innere Kohärenz fehlt und die zentri- fugalen Kräfte entsprechend stark sind.

So paradox es erscheinen mag, die politischen und wirtschaftlichen Globalisierungstendenzen können eine derartige Entwicklung sogar noch fördern: Sicherheit und wirtschaftlichen Wohlstand erwartet man sich dann eben von überstaatlichen Verbänden, wie etwa der NATO oder der Europäischen Union, während der "Nationalstaat" dann die primäre Aufgabe der Erhaltung der sprachlichen und kulturellen Identität wahrnehmen muss.

Wenn am Balkan der gesamte Westen die größten finanziellen und militärischen Anstrengungen unternimmt, um in dieser Region möglichst allen Nationalitäten die Selbstbestimmung zu ermöglichen, warum sollten dann nicht Völkerschaften in anderen Teilen der Welt ihre Rechte entsprechend wahrnehmen wollen? Immerhin gibt es heute in der Welt 5.000 ethnische Gruppen, viele von ihnen zahlenmäßig wesentlich größer als jene, für deren Selbstständigkeit am Balkan gekämpft wurde.

Je mehr die Internationalisierung bzw. Regionalisierung voranschreitet, desto weniger können wesentliche Aufgaben der menschlichen Für- und Vorsorge ausschließlich im Rahmen der zur Zeit gegebenen territorialen Gliederung wahrgenommen werden. Was liegt daher näher als eine neue Aufgabenteilung, die einerseits über den Staat hinaus geht, andererseits aber jene Regionen neu in den Vordergrund rücken lässt, die Menschen als Heimat empfinden.

Zwischen Souveränität und Interventionsrecht

Als Kofi Annan, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, im September 1999 ausführte, dass das ganze Konzept der nationalen Souveränität überdacht werden müsse, zeigte sich in den Reaktionen darauf, dass innerhalb der Staatenwelt dazu die unterschiedlichsten Auffassungen bestehen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt es große Unterschiede, eine Grauzone, wo man je nach Anlass und Eigeninteresse die unterschiedlichsten Farbtöne auswählen kann.

Im wesentlichen meinte Kofi Annan, für die Vereinten Nationen bestünde eine Interventionspflicht, wenn Menschenrechte in grober Weise verletzt werden. Damit wurde das von den Vereinten Nationen bisher voll respektierte Recht eines jeden Staates auf nationale Integrität und Souveränität offen in Frage gestellt. Die Kräfte der Globalisierung und der internationalen Zusammenarbeit würden, so Kofi Annan, dazu zwingen, die nationale Souveränität neu zu definieren, also einzuschränken. Andererseits müsse das Recht eines jeden Einzelnen, sein Leben selbst zu bestimmen, verstärkt werden.

In jedem Fall intervenieren?

Die Reaktionen auf die Ausführungen des UN-Generalsekretärs reichten von "zurückhaltender Beipflichtung" bis zur schroffen Ablehnung. USPräsident Bill Clinton etwa meinte, Verbrechen dürften nie mehr hingenommen werden, wies aber gleichzeitig auf die praktischen Schwierigkeiten hin, bei jeder humanitären Katastrophe zu intervenieren. Der Westen schloss sich dieser Meinung weitgehend an. So sehr die Ausführungen Kofi Annans als "couragiert und zukunftsweisend" bezeichnet wurden, tat man sie durchaus auch als "demagogisch" ab, wie "Le Monde" schrieb.

Ein klares "Nein" kam von China und Russland, aber auch von vielen Staaten Afrikas und Asiens, die zu bedenken gaben, dass die Grenzen schwer zu ziehen seien, wo Interventionen beginnen oder enden sollen. Eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten, meint etwa der algerische Staatspräsident, könne daher nur mit Zustimmung des jeweiligen Staates erfolgen.

Politische Diskussion offen

Die politische Diskussion bleibt also offen und ungeklärt, obwohl es gerade seit dem Irak-Krieg l991 immer wieder dazu kam, dass die "internationale Gemeinschaft" auch gegen den Willen eines betroffenen Staates intervenierte. Wie sollte es auch anders sein, in einer Zeit, in der viele Probleme nur mehr supranational gelöst werden können, die Legitimation, vor allem aber auch die Loyalität der Bürger, jedoch weitgehend bei den nationalen Instanzen liegt. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Haltung der Internationalen Gemeinschaft. Gegen den Irak und gegen Serbien kam es zu massiven Interventionen, während in Ruanda ein Völkermord und in Sierra Leone, im Kongo, in Angola und im Sudan massive Menschenrechtsverletzungen hingenommen wurden. Wie weit der "trotzige Kampf gegen den Westen" (NZZ; April 1999) dabei eine Rolle spielt oder ob es eher um machtpolitische Überlegungen geht, müsste näher untersucht werden. Zum UNO-Beschluss einer Intervention zur Wiederherstellung des Friedens in Ost-Timor kam es jedenfalls erst nach einer Zustimmung Indonesiens, wobei ein amerikanischer Sprecher erklärte, strategische US-Interessen wären nicht betroffen. Die Intervention in Haiti im Jahre 1994, als es darum ging, den gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide einzusetzen, wurde mit dem "Recht der Bevölkerung auf Demokratie" gerechtfertigt. Aber kann dieses Prinzip in einer Welt durchgesetzt werden, in der die Mehrheit der Staaten keine demokratischen Regierungen haben?

Unterschiede in der Praxis

So sehr man immer mehr davon spricht, dass Grenzen kein Schutz mehr für Diktatoren und Tyrannen sind: Die politische Praxis macht immer noch große Unterschiede. Und so manches schweizer Bankkonto wurde erst gesperrt, nachdem ein Diktator, der jahrzehntelang an der Regierung war, abdanken musste, und nicht während seiner Regierungszeit. So geschah es etwa beim philippinischen Diktator Markos oder bei Mobutu, der eine Generation lang Kongo-Zaire ausgeplündert hatte.

Richtig ist wohl, dass Globalisierung und Informationsrevolutionen zu einer anderen Sicht der Dinge, vielleicht sogar zu mehr gegenseitiger Verantwortung führen. So sprach der estnische Staatschef Lennart Meri hinsichtlich des russischen Vorgehens in Tschetschenien von einer "inneren Angelegenheit Europas". Und als international die Meinung vorherrschte, der slowakische Regierungschef Vladimir Meciar würde die Entwicklung der Demokratie in seinem Lande eher behindern als fördern, schrieb die NZZ (September 1998): "Slowakei - ein Fall für Europa" .

Diese neue Art, staatliche bzw. internationale Verantwortung zu sehen, zeigt sich aber auch, wenn die Europäer am Balkan massiv am Wiederaufbau mitwirken, wobei offensichtlich manche Region sogar zu einer Art Protektorat erklärt wurde oder wenn die Amerikaner den Kampf gegen den Drogenhandel in Kolumbien selber in die Hand nehmen.

In der Verfassung verankert

Das Verhältnis zwischen Souveränität und Interventionsrecht ist also in Schwebe und wird es wohl noch längere Zeit bleiben. Dies kann man daraus schließen, dass selbst führende Mitglieder der EU, noch Jahrzehnte nach Gründung der EWG, die "nationale Souveränität" in ihrer Verfassung verankert hatten, obwohl immer wieder auf den supranationalen Charakter der Europäischen Vereinigung hingewiesen wurde. Auch die inhaltliche Ausrichtung der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) oder der "Europäischen Verteidigungsidentität" ist derart wage, dass noch lange nicht klar ist, wie weit dadurch der nationalstaatliche Entscheidungsprozess in der Außen- bzw. Verteidigungspolitik tatsächlich beeinträchtigt wird. Es ist daher damit zu rechnen, dass die Internationale Gemeinschaft auch in nächster Zukunft das Interventionsrecht von Fall zu Fall pragmatisch interpretieren wird.

Wird fortgesetzt

Dr. Wendelin Ettmayer ist österreichischer Botschafter in Kanada.