Einen verpflichtenden Ethikunterricht gibt es in Österreich bislang nur im Schulversuch. "Jugendliche brauchen die Auseinandersetzung mit Werten", sagen die Pädagogen, aber den Schulen fehlen die Mittel.
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Wien. Die Schüler und Schülerinnen sitzen auf dem Podium und diskutieren, ob in Wien ein Minarett errichtet werden soll. Sie sind in die Rolle von erbosten Bürgern, FPÖ- und SPÖ-Politikern geschlüpft und bringen Argumente für und wider die Errichtung des Turms einer Moschee ein. Nach der hitzigen Diskussion wird abgestimmt, die "Bezirksversammlung" geht mit einer knappen Entscheidung für die Errichtung des Minaretts zu Ende. Die Religionsfreiheit, ein Freiheitsrecht der Menschenrechte, hat sich argumentativ durchgesetzt.
Mit den Eltern wird weiterdiskutiert
Wir befinden uns in einer AHS in Wien-Liesing, auf dem Stundenplan der 6. Klasse steht Ethikunterricht. "Ich habe Menschenrechte vorher nicht gekannt", erzählt Yue in der Pause, im Ethikunterricht habe sie das erste Mal von Menschenrechten gehört. Seit ihrem sechsten Lebensjahr lebt die 16-Jährige in Österreich. Dass in ihrem Heimatland China nach wie vor die Todesstrafe praktiziert wird, "weil die da oben es verordnen", kann sie nicht nachvollziehen. Nach der Schule hat sie mit ihren Eltern weiter über dieses Thema diskutiert.
Im Gymnasium Anton-Baumgartner-Straße (GRG 23) müssen die Schülerinnen und Schüler zwischen Religions- und Ethikunterricht wählen – sich von Religion abzumelden und stattdessen frei zu haben, ist keine Option. Empfinden sie es als unfair, dass sie zwei Stunden mehr Unterricht haben, während Gleichaltrige an anderen Schulen, die sich vom Religionsunterricht abmelden, länger schlafen können oder eine Freistunde haben? "Für mich ist das kein Kriterium", sagt Nina. Sie ist 16 Jahre alt und sagt: "In Ethik wird viel verlangt, wir machen viel dafür, aber das ist es auch wert." "In Ethik lernt man Dinge, die man wirklich fürs Leben braucht", sagt auch ihr 15-jähriger Klassenkollege Manuel. Da er nicht religiös ist, war für ihn – einen ehemaligen Klosterschüler – Religionsunterricht keine Option. Auch er hat das Thema Todesstrafe nach der Schule zu Hause angesprochen und diskutiert.
"Man muss ihnen eine sinnvolle Alternative bieten"
"Es ist diffamierend zu behaupten, Jugendliche haben lieber frei. Das stimmt nicht – wenn man ihnen eine sinnvolle Alternative bietet", sagt Dieter Braunstein, Direktor des Gymnasiums Anton- Baumgartner-Straße. Österreichweit sind knapp acht Prozent der Schüler vom katholischen Religionsunterricht abgemeldet, sagt Christine Mann, Amtsleiterin Unterricht und Erziehung der Erzdiözese Wien. Je höher der Jahrgang, desto mehr Abmeldungen. Ist Freizeit die Alternative zum Religionsunterricht, melden sich in der Oberstufe 90 Prozent der Schüler ab, schätzt Braunstein.
Ethik tut der Religion gut
Der Ethikunterricht habe dem Religionsunterricht an seiner Schule gut getan, sagt er. Das Verhältnis zwischen den Anmeldungen für Religion und Ethik sei etwa 40 zu 60; einmal entscheiden sich 40 Prozent eines Jahrgangs für Ethik, dann wieder sind jene, die Religion wählen, in der Minderheit.
Das Gymnasium in Liesing ist nicht zufällig zum Ethikunterricht gekommen. Dass es seit 1997 überhaupt einen Schulversuch gibt, an dem mittlerweile 200 Schulen teilnehmen, ist auch dem Engagement Braunsteins zu verdanken. "Hier war die Geburtsstunde des Ethik-unterrichts" sagt Braunstein, und nimmt an dem ovalen Holztisch in der Direktion Platz.
Naturwissenschafter, Philosophen und auch Religionslehrer seien hier vor fast 20 Jahren beisammen gesessen. Braunsteiner erzählt von "Befürchtungen von links und rechts" und von den Vorbehalten der Erzdiözese, "die dachten, wir wollten ‚Atheismusunterricht‘ einführen." Das GRG 23 war die erste Schule Österreichs, in der vor 17 Jahren Ethikunterricht als Schulversuch eingeführt wurde.
Eine zentrale Rolle bei der Implementierung des Ethikunterrichts spielte auch die Lehrerin Anita Kitzberger. Die Philosophin, die mit ihrem gestreiften Pulli und der Hornbrille ganz dem Bild einer Intellektuellen entspricht, saß damals ebenfalls am Tisch, sie hat den Lehrplan für den Ethikunterricht erstellt.
In der 8. Klasse bleibt für Ethik kaum Zeit
Sie kommt gerade von der letzten Ethikstunde vor der Matura in einer 8. Klasse und erzählt: "Sie haben ganz selbständig über Frauenquoten diskutiert." Es ist ihr wichtig, dass die Jugendlichen lernen, eingeständig zu argumentieren und zu reflektieren, wie sie sagt, und fügt – sichtlich zufrieden – hinzu: "Und sie waren ganz traurig, dass es die letzte Stunde war." Eigentlich ist Ethik auch Teil des Philosophieunterrichts in der 8. Klasse. Doch so kurz vor der Matura bleiben in Summe maximal zwei Monate Zeit für Ethik.
Ethik-Boom wurde durch fehlende Mittel ausgebremst
Im Rahmen der Schulautonomie können Direktoren entscheiden, ob sie das Fach anbieten. Doch während es Ende der 1990er-Jahre einen regelrechten Ethik-Boom gab, haben einige Schulen inzwischen aufgegeben. Die Schulen bekommen für den Schulversuch keine zusätzlichen Mittel. Auch das GRG 23 steht durch den Ethikunterricht für sechs Schulstufen vor großen finanziellen Herausforderungen, nicht verpflichtende Übungen müssen gekürzt werden.
"Jugendliche brauchen die Auseinandersetzung mit Werten", sagt Braunstein. An seiner Schule haben knapp 30 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. An seinem Gymnasium steht Ethik daher schon in der Unterstufe auf dem Stundenplan: die 10- bis 12-jährigen haben zwei Stunden pro Woche "praktisches Philosophieren mit Kindern". Hier werden die Themen Familie, Freundschaft und Konfliktlösung behandelt. Eine Zeitlang gab es Ethik auch für die 12- bis 14-Jährigen – doch auf Dauer war das nicht finanzierbar.
Die Integration in den Regelunterricht scheitert regelmäßig am Geld. Als Schule mit der längsten Erfahrung auf dem Gebiet war das GRG 23 auch bei der parlamentarischen Enquête, die 2011 abgehalten wurde.
Wie Ethik an der Schule angeboten wird, entzweit die Politik
Doch während es große Zustimmung für die Einführung des Ethikunterrichts als Unterrichtsfach gab, blieb die Frage, ob dieser als (verpflichtende) Alternative zum Religionsunterricht oder als zusätzliches Fach für alle eingeführt werden soll, unbeantwortet. Die SPÖ fordert verpflichtenden, zusätzlichen Ethikunterricht für alle Schüler, die ÖVP möchte den Ethikunterricht als Ersatzfach für diejenigen, die sich vom Religionsunterricht abmelden. "Ich bin Pragmatiker: In der politischen Landschaft Österreichs ist Ethik für alle nicht durchzusetzen", sagt dazu Braunstein.
Seit 2007 ist Ethik als Schulfach ein politisches Reizthema, ausgelöst durch den Plan des oberösterreichischen Landeshauptmanns Josef Pühringer (ÖVP), den Schulversuch auf alle höheren Schulen des Bundeslandes auszuweiten. Die großen Religionsgemeinschaften und die ÖVP pochten von Anfang an darauf, dass es sich bloß um einen "Ersatz-Unterricht" handeln könne, konfessioneller Religionsunterricht aber weiter die Norm sein müsse. "Ethik ist kein Ersatzfach", sagt Braunstein und fragt: "Kann es, auch aus Sicht von Theologen, einen ,Ersatz‘ für Religion geben?"
Eine weitere Grundfrage: Sollen Religionslehrer Ethik unterrichten dürfen? "Ja", sagt Braunstein, "Ethik ist ein weltoffenes Fach und jeder sollte Zugang zur Ausbildung haben." Unter den zwölf Lehrerinnen und Lehrern, die an seiner Schule Ethik unterrichten, befindet sich auch eine Religionslehrerin.
"Dass Religionlehrer Ethik unterrichten, ist Schwachsinn"
"Dass Ethik von Religionslehrern unterrichtet wird, ist Schwachsinn", sagt dazu Peter Kampits, ehemaliger Dekan der Wiener Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. Um Ethik unterrichten zu dürfen, müssen Pädagogen derzeit einen dreijährigen Lehrgang an einer der Pädagogischen Hochschulen oder Universität besuchen. Die Ausbildung wird in Wien und Graz angeboten und ist berufsbegleitend.
Doch die Ungewissheit wie es mit Ethik weitergehen soll, hat sich bereits auf die Lehrerausbildung niedergeschlagen, wie Kitzberger am eigenen Leib erfahren hat. Sie lehrt Ethik auch an der Pädagogischen Hochschule in Wien, doch zurzeit gibt es einen Ausbildungsstopp. Seit diesem Semester werden keine neuen Ethiklehrer unterrichtet, und auch der Lehrgang der Uni Wien läuft demnächst aus. Positive Rückmeldungen holt sich die Lehrerin aus dem Schulalltag ("Ich arbeite dialogisch-diskursiv"), bei den Schülern genießt sie einen guten Ruf ("sie ist locker und kann trotzdem streng sein").
Die 7. Klassen machen soziale Praktika
Die ethische Frage, ob man von Jugendlichen erwarten kann, einen solidarischen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, bleibt im GRG 23 keineswegs staubtrockene Theorie: In den 7. Klassen arbeiten alle Jugendlichen eine Woche lang in einem Altersheim, einem Hort oder einem Kindergarten mit behinderten Kindern, um auszuprobieren, wie ihnen soziale Arbeit gefällt.
Die Erfahrungen werden im Ethikunterricht besprochen. Die Schülerinnen und Schüler berichten von zurückweisenden Erfahrungen mit Alzheimerpatienten und von emotionaler Belastung, aber auch über die schönen Erlebnisse, wenn etwa behinderte Menschen körperliche Nähe suchen. Sie können so entscheiden, ob für sie ein sozialer Beruf infrage kommt.
"Politischer Stillstand"
Die Pädagogen wünschen sich mehr Rückhalt, doch: "Auf politischer Ebene herrscht Stillstand", sagt Kitzberger resigniert. Und angesichts der angekündigten Einsparungen im Bildungsbereich – 128 Millionen in den kommenden beiden Jahren – ist Optimismus für Ethikunterricht an allen Schulen wohl auch fehl am Platz.