Ein erstes Resümee zur Pflegereform unter Minister Johannes Rauch.
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100 Tage im Amt - das ist üblicherweise die Zeitspanne, die einem neuen Regierungsmitglied zugestanden wird, um sich einzuarbeiten und erste Erfolge vorzuweisen. Der Tradition folgend ziehen wir nun 100 Tage nach der Angelobung von Johannes Rauch als Sozial- und Gesundheitsminister ein erstes Resümee. Dass wir uns von Amnesty International diesbezüglich zu Wort melden, hat einen einfachen Grund, den viele nicht kennen: Es sind Menschenrechte, um die es in seinem Ressort geht. Um genau zu sein, sind es soziale Menschenrechte - die in Österreich verfassungsrechtlich nicht verankert sind und ein Schattendasein fristen.
Doch zurück zum Anfang: An Ankündigungen aus dem Sozialministerium mangelt es derzeit nicht. Mitte Mai verkündete Minister Rauch, im Herbst die lang erwartete und überfällige Pflegereform umzusetzen, und Anfang Juni wurden entsprechende Gesetze in Begutachtung geschickt. Vieles und viele sind davon betroffen - auch der wichtige Bereich der 24-Stunden-Betreuung, der leider in der Vergangenheit oft nur rudimentär berücksichtigt wurde. Auch die aktuellen diesbezüglichen Maßnahmenvorschläge sind vage und unklar, Details sollen angeblich im Herbst folgen.
Die versprochene Milliarde, die gemeinsam mit dem Reformpaket in Aussicht gestellt wurde, ist wichtig - sie löst aber nicht alle Probleme. Menschenrechte lassen sich nämlich nicht kaufen beziehungsweise. anders gesagt: Kein Geld der Welt kann und darf in einem Sozial- und Rechtsstaat wie Österreich darüber hinwegtäuschen, dass Menschenrechte nicht eingehalten oder manchen verwehrt werden, wie etwa den Betreuerinnen. Es sind neben den finanziellen vor allem die strukturellen und rechtlichen Herausforderungen, die es zu lösen gilt.
Ausbeutung im großen Stil
Zur Erinnerung: Vor gut einem Jahr hat Amnesty International einen umfangreichen Bericht präsentiert, der die menschenrechtlich dramatische Situation von 24-Stunden-Betreuerinnen in Österreich aufgezeigt hat. Geändert hat sich seither strukturell nichts. Zum Teil schockierend schlechte Bezahlung, übermäßig lange Arbeitszeiten, kein gesicherter arbeitsrechtlicher Schutz oder Zugang zu Sozialleistungen wie zum Beispiel einer Krankenversicherung - das rechtliche Rahmenwerk in Österreich lässt die Ausbeutung von Betreuerinnen im großen Stil zu, und das, obwohl die 24-Stunden-Betreuung eine wichtige Säule des heimischen Pflegesystems darstellt.
Minister Rauch sieht einen Weg in der "Verbesserung der arbeitsrechtlichen Bedingungen der Betreuerinnen inklusive Attraktivierung des unselbständigen Beschäftigtenmodells". Das klingt gut - doch wenn in Österreich die allermeisten Betreuerinnen selbständig tätig sind, braucht es einen rechtlichen Rahmen, der die Menschenrechte aller (!) schützt - egal ob selbständig oder unselbständig. Und wenn der Sozialminister von der "Einbeziehung der Sozialpartner und Stakeholder" für die Erarbeitung eines neuen Modells der 24-Stunden-Betreuung spricht, müssen wirklich alle Interessenvertretungen an Bord geholt werden - das heißt, neben der Wirtschaftkammer auch die Arbeiterkammer, die Gewerkschaften und selbstorganisierte Interessenvertretungen von Betreuerinnen sowie andere Akteurinnen und Akteure, die über ihre Bedürfnisse und Probleme Bescheid wissen.
Last but not least braucht es eine Qualitätsoffensive in Richtung Vermittlungsagenturen - Stichwort Ausweitung der Zertifizierung. Das aktuelle Modell basiert auf Freiwilligkeit mit dem Ergebnis, dass nur etwa 5 Prozent der Agenturen zertifiziert sind. Unbedingt nötig ist aber, dass die Qualitätszertifizierungen für die Agenturen endlich auch die Situation der Betreuerinnen mitumfasst und überprüft, damit eine qualitätsvolle und menschenwürdige Betreuung für die zu Betreuenden wie auch für die Betreuerinnen sichergestellt ist. Letztlich ist es ja genau das, was wir uns alle wünschen: (Rechts-)Sicherheit und Qualität - im Bereich der 24-Stunden-Betreuung wie auch in anderen Bereichen der Pflege.
100 Tage im Amt sind ein guter Anlass, neben einem Resümee vor allem auf die wesentlichen (Heraus-)Forderungen aufmerksam zu machen, die auf einen Minister zukommen. Unsere Forderung, ist die Achtung der sozialen Menschenrechte - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Jetzt liegt es am Minister, für die wirksame Umsetzung zu sorgen.