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Istanbul/Nikosia. Vom Dach des riesigen Istanbuler Justizpalastes im kann man bei gutem Wetter die Insel Büyükada im Marmarameer sehen, wo am 5. Juli zehn Bürgerrechtler, darunter der Berliner Dokumentarfilmer Peter Steudtner, festgenommen wurden, weil sie auf einem Menschenrechts-Workshop angeblich einen Umsturz in der Türkei planten. Am Mittwoch wurde der Prozess gegen Steudtner und die anderen Aktivisten in Istanbul fortgesetzt - in Abwesenheit des 45-jährigen Berliners und seines schwedischen Kollegen Ali Gharavi, die inzwischen die Türkei verlassen haben. Am Abend entschied das Gericht, dass der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic, weiter in Untersuchungshaft bleiben muss. Der Antrag seiner Anwälte, ihn wie die übrigen Angeklagten bis zu einem Urteil auf freien Fuß zu setzen, wurde abgelehnt. Den Beschuldigten wird "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation" und Terrorunterstützung vorgeworfen, worauf bis zu 15 Jahre Haft stehen. Alle weisen die Vorwürfe zurück.
Der türkische Amnesty-Vorsitzende Kilic war gleich zu Beginn des zweiten Verhandlungstages vernommen worden. Er sitzt in Izmir in U-Haft und wurde per Video in den Gerichtssaal geschaltet. Kilic sagte, das Verfahren selbst sei "kriminell", die angeblichen Beweise gegenstandslos. Mit Blick auf seine seit mehr als fünf Monate andauernde Inhaftierung erklärte er: "Ich will, dass diese Ungerechtigkeit ein Ende findet." Ein Mobilfunkexperte erläuterte als Zeuge zu dem Hauptvorwurf gegen Kilic, wonach er die Verschlüsselungsapp Bylock auf seinem Handy installiert habe, dass dies eindeutig falsch sei. Bylock soll vor allem von Anhängern der Gülen-Sekte, denen die türkische Regierung den Putschversuch vom Juli 2016 anlastet und als Terrorgruppe bezeichnet, angewandt worden sein.
Der Prozess gegen Kilic hatte ursprünglich nichts mit dem Verfahren gegen die zehn Menschenrechtler vom Büyükada-Seminar zu tun, wurde diesem aber gerichtlich angegliedert, da Kilic laut Staatsanwaltschaft der eigentliche "terroristische" Drahtzieher gewesen sei. Während die "Büyükada-10" zum Prozessauftakt am 25. Oktober nach drei Monaten aus der U-Haft entlassen wurden, entschied ein Richter in Izmir einen Tag später, dass Kilic weiter in Haft bleiben müsse. Auch der Sponsor des Menschenrechtsseminars, der prominente türkische Kunstmäzen Osman Kavala, sitzt weiterhin in U-Haft.
Der Workshop auf Büyükada war von der türkischen Amnesty-Sektion ausgerichtet worden. Der Türkei-Rechercheur der Organisation, Andrew Gardner, bezeichnete das Verfahren in einem Twitter-Video als "Farce" und sagte: "Es ist unglaublich, dass wir immer noch in diesem haltlosen Prozess sitzen." Mehr als 70 internationale Prominente hatten einen Protestbrief gegen die Anklage der elf Menschenrechtler unterschrieben.