Der bosnische Architekt Mensur Demir über den seelischen Wiederaufbau in Sarajevo, die Lehren aus dem Versuchsmodell Bosnien - und über seine Gefühle als doppelter Exilant im eigenen Land.
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"Wiener Zeitung": Wir sind hier mitten in der Altstadt von Sarajevo. Für jemanden, der das erste Mal in dieser Stadt ist, sieht sie - abgesehen von den zerschossenen Ruinen, die da und dort noch erkennbar sind - wie eine normale mitteleuropäische Stadt aus. Trügt der Schein?Mensur Demir: In Berlin gab es noch bis in die späten 1970er Jahre zerschossene Gebäude und Kriegsschäden. Im Gegensatz zur Zerstörung ist der Aufbau immer langsam. Dadurch kann ich die äußeren Schäden in Sarajevo leichter akzeptieren. Es bereitet mir aber viel mehr Sorgen, wie die Menschen sich selbst aufbauen werden. Eine Stadt stirbt, wenn ihre Seele umgebracht wird. Und es gibt Städte in Bosnien, deren Seele angegriffen wurde - wie etwa Mostar, deren Symbol, die Brücke, zerstört wurde. Die Stadt ist immer noch aufgeteilt in ein kroatisch-katholisches - und ein moslemisches Ufer. Sarajevo muss sich indes die Frage stellen, wie es seine Tradition des Multikulturellen aufrecht erhalten kann. Es geht darum, dass sich alle untereinander wohlfühlen können - sonst kommt es zwangsläufig zu einer Separation.
Ist es nicht schwer, sich nach dem Krieg untereinander wohlzufühlen?
Als ich 1998 nach Sarajevo kam und versucht habe, mich einzuleben, habe ich mir einmal bei einer Straßenbahnfahrt die Frage gestellt: Wie viele Menschen in dieser Straßenbahn waren auf den Bergen rund um Sarajevo und haben diese Stadt beschossen? Es geht darum, einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen und zu sagen: "Der Krieg ist zu Ende, wir leben jetzt weiter."
Aber wie soll das funktionieren? In Bosnien reden die Menschen zwar häufig über den Krieg, von einer Aufarbeitung ist man aber noch weit entfernt.
Wenn man die Geschichte aufarbeiten will, dann muss man zuerst sich selbst fragen: Welche war meine Rolle, was habe ich tun können, und was habe ich nicht getan? Die Versöhnung liegt dann in dem Versuch, miteinander zu kommunizieren, einander zu tolerieren und Kompromisse einzugehen. Serben und Muslime leben in Sarajevo leider nicht miteinander, sondern nebeneinander - dabei spielt auch die Stadtplanung eine Rolle.
Inwiefern?
Die Stadtplanung unterstützt politische Ziele. In Sarajevo geht die Entitätsgrenze manchmal mitten durch Wohnhäuser hindurch - dann muss etwa der Strom in der Republika Srpska bezahlt werden, das Gas hingegen in der bosnischen Förderation. Solche Absurditäten werden auch von der Stadtplanung zugelassen.
In Wien gibt es seit 1945 keinen Krieg mehr, aber die Menschen unterschiedlicher Herkunft leben trotzdem nebeneinander her. Wo sehen Sie die Ursachen für diese Segregation?
Im Alter von 13 bis 18 Jahren war ich als Kriegsflüchtling in München. In dieser Zeit lernte ich die deutsche Sprache, ich war ein guter Schüler, also ein Vorzeigebeispiel für Integration - hieß es zumindest. Aber ich wurde ständig wegen meiner Identität und wegen meines muslimischen Namens ausgegrenzt. Das Paradoxe war: Als ich nach Sarajevo kam, wurde ich als Deutscher beschimpft, als eine Art Kriegsverräter, der geflohen ist, als das Schlimmste über unser Land hereingebrochen ist. Viele Immigranten sind in einer ähnlichen Lage: Wenn sie in ihr Ursprungsland gehen, können sie sich nicht wieder integrieren; wenn sie in ihrem aktuellen Land sind, fühlen sie sich nicht wirklich zu Hause. Wenn man sein altes Zuhause verloren, aber noch kein neues gefunden hat, dann entstehen Spannungen, die sich in verschiedenen Verhaltensmustern widerspiegeln, sei es Trotz gegen Integration oder seien es abweichende Verhaltensweisen.
Ist Bosnien eine neue Heimat für die Ex-Jugoslawen?
Ex-Jugoslawien war eine Art Straßenkreuzung, auf der sich die Interessen vieler Staaten überschnitten haben. So hat jetzt jeder seinen Reservestaat: In Bosnien hat fast jeder Katholik oder Griechisch-Orthodoxe einen kroatischen oder serbischen Pass. Das ist, als wären Sie verheiratet und hätten eine reiche Geliebte mit großer Wohnung. Dann fangen Sie in Ihrer Ehe Streit an, weil Sie wissen, dass es Ihnen bei der Geliebten sehr gut gehen wird. Wenn die Menschen aber in ihren Reservestaat gehen, werden sie dort als Bosnier wahrgenommen.
Die emotionale Situation von Immigranten in Deutschland oder Österreich wird wohl ähnlich sein.
All die Menschen, mit denen ich in Deutschland war, waren sehr stolz auf ihr Herkunftsland und ihre Identität, die aber auf schwachen Beinen stand. Ich habe mich immer als Kosmopolit gefühlt; als ich aber nach Sarajevo kam und erfahren musste, wie sehr ich von der Welt ausgegrenzt bin - weil es ein kompliziertes Visa-Verfahren gab und ich mich fürchten musste, als Moslem nach Europa zu reisen und als potenzieller Terrorist verdächtigt zu werden -, kam es mir tragisch vor, dass ich die Welt sehen will, aber die Welt mich nicht sehen will. Die doppelten Standards auf allen Seiten sind eine Ursache für Migrationsreibungen.
Wie haben Sie Ihre Rückkehr nach Bosnien erlebt?
Am schlimmsten hat mich in Sarajevo das Gefühl getroffen, dass ich in einem zweiten Exil wohne. Ich komme aus Doboj im Norden Bosniens, das jetzt in der Republika Srpska liegt, laut meiner Geburtsurkunde bin ich "Staatsbürger der Republika Srpska und Bosnien-Herzegowinas". Die Republika Srpska hat das Privileg einer eigenen Staatsbürgerschaft, das ist also eine Art langsamer Sezession. Bosnien ist ein kompliziertes Land, aber wenn man es genauer studiert, kann man es als ein Experiment betrachten, aus dem man Lehren für die gesamte Welt ziehen kann. Denn es wird in Zukunft nirgendwo mehr so bleiben, wie es war und ist - die Menschen werden sich überall hin und herbewegen, und es ist unsere Aufgabe, uns damit zu beschäftigen.
Welche Art von Modellfunktion kann Bosnien einnehmen?
Bosnien ist ein Versuchsmodell - mit ungewissem Ausgang. Es ist ein Protektorat, unsere Währung gilt nur hier, sie ist ein auf den Euro fixiertes Monopoly-Spielgeld; wir haben den Hohen Repräsentanten Valentin Inzko - und wir haben zwei oder drei Pole im Land, die gegeneinander arbeiten. Die Menschen in Banja Luka (Hauptstadt der Republika Srpska, Anm.) haben Angst, nach Sarajevo zu kommen, weil sie denken, dass das eine Stadt wie Teheran ist. Es ist komisch, dass sich Europa vereinigt und die Grenzen fallen, hier aber - quasi als Gegenreak-tion- alles in kleine Zellen aufgeteilt wird.
Liegt das am Land selbst oder hat sich die internationale Gemeinschaft zu viel eingemischt?
Es ist für mich ein böses Omen, dass die Verfassung unseres Landes - der Friedensvertrag von Dayton - nach einem Nuklearstützpunkt der amerikanischen Luftwaffe benannt wurde. Derzeit ist die Situation an einem Punkt angelangt, wo es mehrere Jahrzehnte so weitergehen könnte. Das ist aber auch das Problem: Wenn ich weiß, dass dieses Modell so bleiben kann, warum sollte ich dann dafür kämpfen, dass sich etwas ändert?
Sie haben sich dafür entschieden, zu bleiben. Viele andere Junge wandern aus. Was für eine Perspektive hat die bosnische Jugend?
Genau wie dieses Land kein Konzept für die Zukunft hat, was Verfassung, Staatsführung, Wirtschaft und Währung betrifft, haben die Menschen keine Konzepte - und das schlägt sich in Passivität nieder. Die Jugend geht nicht wählen, demonstriert selten und ist in viele Gruppen zersplittert. Es findet eine Art Kulturinversion statt: Viele Jugendliche denken wie alte Menschen, während Überlebende des Zweiten Weltkriegs sich für Veränderungen einsetzen - viel mehr als Junge, die sich mit der Lage abfinden.
Was sind die mittel- und langfristigen Optionen für Bosnien aus Ihrer Sicht?
Die schlimmste Prognose ist: Es bleibt so. Angeschlossen an Apparaten, kann das Land im Koma jahrzehntelang weiterexistieren. Die zweite Option ist ein wirtschaftlicher Kollaps. Die dritte Option ist, dass jemand die politische Bühne betritt, der es schafft, den Tiefpunkt als Anfangspunkt für eine radikale Änderung darzustellen. Diese Option trägt natürlich auch ein gefährliches Poten-zial in sich - siehe Deutschland 1933. Es kann aber auch einen positiven Aufschwung mit sich bringen. Das Problem ist der Einfluss von unseren nächsten Nachbarn auf die Menschen, denen sie eine Reserveheimat bieten. Und wir sind mental viel zu stark an Europa gebunden. Europa ist aber unentschlossen, so wie es unentschlossen zugeschaut hat, als Sarajevo beschossen wurde und als in Srebrenica fast 8000 Menschen abgeschlachtet wurden.
Viele Bosnier schlafen angeblich mit der Waffe unter dem Kopfkissen, weil sie davon ausgehen, dass es bald wieder Krieg geben könnte. Wie stabil ist der Frieden im Land?
Die gefährlichste Waffe, die man unter dem Kissen haben kann, ist die Angst vor dem Anderen. Die Mittel sind dann egal, es können wirtschaftliche, religiöse oder auch reale Bomben sein. Wenn man einen Krieg im traditionellen Sinn beginnen will, braucht man Millionen für Munition, Waffen, Transport und Tagelöhner. Diese materiellen Mittel fehlen, daher ist meine Hoffnung, dass es keinen neuen Krieg geben wird.
Fehlende Mittel für einen neuen Krieg allein sind aber ein schwaches Fundament für einen stabilen Frieden.
Das Problem ist, dass unser letzter Krieg nicht in einer Katharsis geendet hat. In Deutschland haben die US-Soldaten die Zivilbevölkerung zu den Konzentrationslagern geführt. Hier gibt es immer noch Manipulationen mit Zahlen von Toten, Misshandelten, vergewaltigten Frauen. Dieser Krieg wurde eingefroren. Und in diesem Einfrierungszustand wurden die größten Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt. Aber sie werden immer noch von ihren Bevölkerungsgruppen als Helden wahrgenommen - egal, was der Internationale Strafgerichtshof gesagt hat oder welche unumkehrbaren Beweise es gibt. Das hat keine Basis für die Zukunft. Falls das nicht bearbeitet wird, wird irgendwann wieder zu den Waffen gegriffen werden, weil der nationale Mythos der ist, dass die Helden gestoppt worden sind und die Ehre ihres Landes neuerlich verteidigen müssen.
Ich für mich selbst weiß nur, dass ich trotz allem Hoffnung habe - aus dieser Hoffnung heraus bin ich Architekt geworden und arbeite noch hier.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" />Mensur Demir wurde 1980 in Doboj in Bosnien geboren. Heute ist Doboj Teil der Republika Srpska, also des serbischen Teils Bosniens. Als bosnischer Muslim wurde Demirs Vater im Krieg verfolgt. 1993, mit 13 Jahren, flüchtete Demir nach München. Er integrierte sich perfekt, wurde aber 1998 durch einen Vertrag zwischen Deutschland und Bosnien vor die Wahl gestellt, freiwillig auszureisen oder abgeschoben zu werden. Er entschied sich für ersteres. Er ging nach Sarajevo, wo er Architektur studierte. Heute arbeitet er in einem Architekturbüro, unterrichtet an der Universität Sarajevo und hält Vorträge.