Crouch fordert Sozialdemokratie zur Einbindung der Zivilgesellschaft auf.
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"Wiener Zeitung": Ihr neues Buch heißt "Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit". Auf einer Skala von null (gar nicht) bis zehn (absolut): Welche Demokratien würden Bestnoten in Sachen sozialer Gerechtigkeit erhalten?Colin Crouch: Am besten würden die nordeuropäischen Staaten, die Niederlande und Österreich abschneiden. Sie würde ich mit fünf bis sechs klassifizieren. Großbritannien und die USA wären hingegen weit abgeschlagen mit drei bzw. zwei.
Welche Noten hätten Sie 1979 verteilt, als Margaret Thatcher Premierministerin in Großbritannien wurde - was als Startschuss der neoliberalen Ära gilt?
Interessanterweise wohl die gleichen. Denn damals waren die Einkommen zwar gerechter verteilt, aber Frauenrechte, die Rechte Homosexueller oder von Migranten haben sich in allen Staaten verbessert. Alleine an diesen wenigen Faktoren sieht man, dass verschiedenste Elemente soziale Gerechtigkeit ausmachen.
Was verstehen Sie unter sozialer Gerechtigkeit?
Drei zentrale - und unterschiedliche - Elemente stecken in dem Begriff: Gerechtigkeit, Fairness und sozial. Gerechtigkeit bedeutet, dass das Recht angewandt wird und sich die Bürger darauf verlassen können. Fairness ähnelt der Gerechtigkeit, es geht dabei aber nicht nur um das Recht, sondern das Verhalten im Allgemeinen. Wenn ich für eine Handlung auch die Konsequenzen tragen muss, ist das fair. In einer sozial gerechten Gesellschaft können die Bürger ein Leben erwarten, das ihren Bemühungen entspricht. Wenn jemand hart arbeitet, muss er Aufstiegschancen, Hoffnung und ein angemessenes Einkommen haben.
Warum stimmen so viele Personen für Parteien, die ihnen genau das nicht ermöglichen, warum wählen also weiße Modernisierungsverlierer in den USA die Republikaner?
Bereits in der Vergangenheit akzeptierten die Leute lange, dass Adelige über sie verfügten. Und bis heute basiert das Wahlverhalten teilweise stärker auf Symbolen der Identität wie Nation oder Religion als auf wirtschaftlicher Basis. Die Strukturen der großen und wichtigen Parteien Westeuropas fußen noch immer auf Identitäten, die über 100 Jahre alt sind, als sich die Demokratie zu entwickeln begann, in den USA auf den Bürgerkrieg vor knapp 150 Jahren. Nun haben wir in Europa - nicht in den USA - säkulare Gesellschaften, die neue Klassenstrukturen hervorgebracht haben, jedoch keine neuen Identitäten.
Sie hoffen auf mehr soziale Gerechtigkeit und setzen bei der Überwindung des Status quo vor allem auf die Sozialdemokratie. Warum?
Auch die Sozialdemokratie muss sich ändern. Aber im Vergleich zu anderen Parteien sind weniger Anpassungen notwendig, daher hoffe ich auf eine Allianz mit grünen Bewegungen. Ich bin für die Marktwirtschaft, aber wir müssen ihr mehr Sinn geben und den negativen Auswirkungen mehr Beachtung schenken. Früher übernahmen liberale Parteien diese Rolle, wurden aber immer neoliberaler oder verloren an Relevanz. Konservative Parteien standen im 19. Jahrhundert der Marktwirtschaft sehr kritisch gegenüber, heute stehen sie voll hinter dem Markt - mit Ausnahme christdemokratischer Gruppierungen, die auch eine soziale Agenda haben.
Mit dem "dritten Weg" unter Tony Blair oder Gerhard Schröders Reformen haben ausgerechnet Sozialdemokraten weitgehende Konzessionen an den Markt gemacht.
Blair hat wichtige Signale der Zusammenarbeit von Sozialdemokratie und Marktwirtschaft ausgesendet. Auf der anderen Seite gelang es nicht, sich bildende Oligopole im Zaum zu halten. Blair und Schröder akzeptierten vollständig die Dominanz des Finanzkapitals, was man insbesondere in Großbritannien an den Deregulierungsmaßnahmen, welche die Finanzkrise ausgelöst haben, ablesen kann. Aber die Sozialdemokratie hat eingesehen, dass sie zu weit gegangen ist. Ja zur Marktwirtschaft, aber nein zu den ihr inhärenten sozialen Problemen lautet nun die Devise.
Welche Rolle soll die Zivilgesellschaft neben den Parteien übernehmen?
Bürgerinitiativen sind sehr wichtig, denn Parteien alleine repräsentieren nicht mehr alle gesellschaftlichen Strömungen. Und sie können auch gar nicht mehr die enormen und vielfältigen Erwartungen an Politik alleine erfüllen. Sie sind aber als Mittler zwischen dem Staat und den Bürgern weiter unerlässlich. Gerade die politische Linke hat in der Vergangenheit den Fehler gemacht, zu sehr auf Parteienstrukturen vertraut zu haben. Das mag im 19. Jahrhundert als Gegenmittel zur Macht von Adel und Kirche nachvollziehbar gewesen sein, ist es heute aber nicht. Die Linke sollte heute selbstbewusster Partnerschaften mit zivilgesellschaftlichen Gruppierungen eingehen.
Andererseits beäugen sich Parteien und Zivilgesellschaft teils argwöhnisch, und Letztere will nicht vor den Karren traditioneller Politik gespannt werden.
Beide Seiten werden verlieren, wenn sie nicht zusammenarbeiten. Eine Kooperation kann nur erfolgreich sein, wenn man die andere Sphäre als eigenständig akzeptiert - und etwa die Politik nicht nur darauf schielt, aus der Zivilgesellschaft neues Parteipersonal zu lukrieren. Stattdessen muss Respekt vor der Tätigkeit des anderen und dessen Werten herrschen. Darüber habe ich übrigens in der "Sektion 8" der Wiener SPÖ referiert, die jung, sehr aktiv...
... und sehr unpopulär in einflussreichen Kreisen der SPÖ ist.
Genau das ist der Fehler der Partei. Alle Organisationen müssen - freundlich, aber doch bestimmt- herausgefordert werden. Natürlich ist das einfach für mich zu sagen. Der Wiener Bürgermeister denkt sich vielleicht, dass die "Sektion 8" den anderen Parteien argumentative Munition liefert. Es gibt aber keine Alternative zu dieser nicht immer einfachen Kooperation.
Gibt es eine sozialdemokratische Bewegung in Europa, die sich in die von Ihnen gewünschte Richtung bewegt?
Noch nicht. Aber es gibt zumindest die Bereitschaft, darüber nachzudenken. Die Finanzkrise hat dazu entscheidend beigetragen. Es gibt sogar innerhalb der G8, der größten Industrienationen, Signale. Man denke nur an die Debatte um Steueroasen.
Mit der Postdemokratie ging auch der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien einher.
Ich bin in dieser Frage gespalten, man kann sie pessimistisch als auch optimistisch betrachten. Fremdenfeindlichkeit und Hass gegenüber Minderheiten ziehen sich quer durch die Geschichte Europas. Aus dem Rahmen fallen die zwei Generationen nach dem Nationalsozialismus, die mit Horror auf diese Zeit zurückblicken. Doch was, wenn die Menschheit wieder vergisst? Blicken Sie nur ins ehemalige Jugoslawien. Andererseits machen viele Junge bereits heute positive Erfahrungen mit einer ethnisch inhomogenen Gesellschaft. Diversität stoppt Rechtspopulismus. In Großbritannien sind Schwarze und Weiße ganz selbstverständlich miteinander befreundet. Auch in Wien sehe ich Frauen mit Kopftüchern nicht bloß in getrennten Gruppen.
Wie schätzen Sie die Lage außerhalb Europas und Nordamerikas ein?
Die Themen sind andere, aber die neuen Formen des Protestes, insbesondere dank der Sozialen Medien wie Facebook und Twitter, sind die Gleichen. Im Arabischen Frühling geht es sehr stark um Religion und Säkularisierung, was für Europäer alte Themen sind - nicht jedoch für die USA. Neu ist, dass wir einander gegenseitig intensiver betrachten. Europäer verfolgen, was in Ägypten passiert, und die türkische Gezi-Park-Bewegung nimmt sich ein Vorbild an der amerikanischen Aktion Occupy Wall Street.
Und scheitern letztlich anhand fehlender Strukturen.
Deswegen ist die Zusammenarbeit mit Parteien so wichtig.
Der Arabische Frühling brachte eine Demokratisierung in Sachen Mitbestimmung, demokratisch-liberale Werte sind jedoch ein Minderheitenprogramm. Bleibt die Demokratie westeuropäischer Prägung auf einige wenige Länder beschränkt?
Das mag sein. Gleichzeitig gibt es auch in jenen Staaten liberale Traditionen, etwa im alten Osmanischen Reich gegenüber anderen Religionsgruppen. Insofern spielt die Türkei eine Schlüsselrolle. Umso bedauerlicher ist die Haltung von Premier Erdogan gegenüber den Gezi-Demonstranten. Mich erinnert die Lage an jene von Charles de Gaulle während der 68er-Revolution. Es bleibt abzuwarten, ob die Türkei einen demokratischen Weg wie Frankreich damals wählt, oder die Repressionen weiter zunehmen.
Die Türkei unter Erdogan ist aber wirtschaftspolitisch liberal und nicht mit Frankreich der 60-Jahre vergleichbar. Hat das von Ihnen herbeigesehene Wirtschaftsmodell nicht seinen Zenit überschritten?
Neoliberalismus ist eine Rückkehr zu wirtschaftlichen Ideen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es gibt zwei Formen ihrer Anhänger: echte Marktliberale oder Unternehmens-Liberale, welche die Interessen von Großkonzernen vertreten. Dieser ideologische Kampf dauert weiter an. Aber wenn ich mir die Antworten auf die Bankenkrise durch OECD, Internationalen Währungsfonds und Weltbank ansehe, rücken alle von ihren extrem neoliberalen Positionen ab.
Gilt dieser Kampf auch für die USA? Dort wechseln Banker, an vorderster Stelle jene von Goldman Sachs, in Regierungsfunktionen.
Ja, die Macht von Lobbyorganisationen ist wesentlich größer. Die Diskussionen sind dennoch ähnlich.
Aber die Demokraten sind genauso wie die Republikaner von Groß-Finanzspenden abhängig.
Das ist deren Problem. Die Demokraten erhalten die Gelder tendenziell aus dem Finanzsektor und der Tech-Industrie, während die Republikaner auf den Energiesektor vertrauen können.
Unter diesen Voraussetzungen sind nur schwer Änderungen möglich.
Das fürchte ich auch. Präsident Barack Obama ist das beste Beispiel: Auch er kann sich nicht von den Geschäftsinteressen lösen. Noch viel deutlicher werden diese Probleme allerdings bei der Wahl von Kongressabgeordneten sichtbar. Deshalb setze ich meine Hoffnungen auf den Nordwesten Europas.
Wie bewerten Sie den restlichen Teil des Kontinents?
Ich sorge mich um den Südwesten. Sie fanden ihre Rolle als billige Produzenten, stehen mit dem Ende des Ost-West-Konflikts seit 1990 vor einer doppelten Herausforderung: In Zentral- und Osteuropa gibt es gut ausgebildete und gleichzeitig günstige Arbeitskräfte. Und das 2004 ausgelaufene Welttextilabkommen hat den Südländern stark zugesetzt. Die zuvor geschützte Kleidungs- und Textilindustrie wurde vor Importen aus Südostasien geschützt. Früher konnten die europäischen Länder noch ihre Währungen abwerten, um mit anderen Billig-Anbietern mitzuhalten. Mit dem Euro ging auch diese Option verloren. Das alles war absehbar, Italien und Spanien haben nicht genug getan, um dem Abstieg entgegenzuwirken. Den Griechen schlägt die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds vor: Reduziert eure Kosten, bis ihr wieder mit Rumänien konkurrenzfähig seid.
Was ein klassisch neoliberales Gegenrezept ist.
Noch dazu fehlt die demokratische Legitimierung durch das Parlament und andere europäische Institutionen als Gegengewicht zur den Neoliberalen. Es gibt noch eine zweite Ebene: Deutsche sehen sich für faule Griechen zahlen. Angela Merkel verhält sich wie eine schwäbische Hausfrau, die nicht versteht, dass verschuldete Personen nicht bestraft werden sollten.
Deutschlands Ex-Kanzler Helmut Schmidt sagte, Merkel verstehe nichts von Wirtschaft.
Wahrscheinlich nicht.
Zur Person: Colin Crouch
sorgte mit seinem Essay "Postdemokratie" (2004) weltweit für Furore. Darin beschreibt der frühere Leiter des Instituts für Governance and Public Management an der Uni Warwick den Niedergang von Demokratien durch Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung - bei formal intakten Institutionen. Crouchs neues Buch "Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit" erscheint nun als deutschsprachige Erstausgabe im Wiener Passagen-Verlag.