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CDU-Chefin soll in London ihre EU-Reformpläne darlegen.
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Wien. Der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wird bei ihrem Besuch in London auf eine Art und Weise der Hof gemacht, wie sie es nicht gewohnt sein dürfte. Sie wird am heutigen Donnerstag von der Queen zum Tee empfangen und später eine Rede vor beiden Häusern des britischen Parlaments halten - eine Ehre, die nur wenigen zuteil wird. Es gleicht einer Art Brautwerbung. Die britische Regierung hat dafür jedoch gute Gründe.
Premierminister David Cameron verspricht seinem Volk für den Fall seiner Wiederwahl im nächsten Jahr ein Referendum im Jahr 2017, in dem sich die Briten zwischen einem vollen EU-Austritt oder dem Verbleib in einer Union entscheiden können, die er bis dahin grundlegend reformieren möchte. Geht es nach dem Willen des Tory-Politikers, soll die EU flexibler werden. In einer Rede forderte er, dass es für Mitgliedsstaaten möglich sein sollte, nicht an allen EU-Programmen teilzunehmen zu müssen. Zudem sollen sie Kompetenzen aus Brüssel zurückholen können. Schließlich sei das Grundprinzip des "immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker", wie es die EU-Verträge vorsehen, nicht mehr zeitgemäß. Um die Union jedoch reformieren zu können, benötigt Cameron die Unterstützung aus anderen Mitgliedsländern - allen voran jene Angela Merkels.
Die Abschottungsfraktion
Mit seinen Reformideen ist der britische Premier auch keineswegs alleine in Europa. Speziell die nördlichen EU-Mitgliedsländern scheinen sich zunehmend vom Prinzip abzuwenden, wonach eine Weiterentwicklung der Europäischen Union immer nur in eine Richtung, jener der verstärkten Integration, zu erfolgen hat. Über eine Rückführung von Kompetenzen aus Brüssel wird nicht nur in London, sondern mittlerweile auch in Amsterdam, Berlin, Wien und Helsinki laut nachgedacht. Neu ist dabei, dass diese Überlegungen nicht mehr nur von offen EU-skeptischen Bewegungen kommen, sondern von etablierten Parteien, die über Jahrzehnte die europäische Integration entscheidend mitprägten.
Einer der lautesten Fürsprecher ist der niederländische Premier Mark Rutte von der liberalen "Volkspartei für Freiheit und Demokratie". Er verkündete, dass "die Zeit der immer engeren Zusammenschlusses in allen Bereichen" vorbei sei und präsentierte zusammen mit seinem Außenminister Frans Timmermans ein Papier mit 54 Vorschlägen, wie die Aufgaben zwischen nationaler und europäischer Ebene neu zu verteilen sind. Diese Vorschläge decken sich weitestgehend mit jenen von Cameron. Weniger Macht für Brüssel fordert auch der finnische Premier Jyrki Katainen.
Die deutsche CDU, die Partei großer Integrationsfiguren wie Helmut Kohl und Konrad Adenauer, wird mit dieser Haltung sogar in den EU-Wahlkampf ziehen. In Österreich kommen entsprechende Töne aus der ÖVP. Klubobmann Reinhold Lopatka sprach davon, dass der "Umweg über Brüssel nicht immer nötig" sei, und regte in einem offenen Brief an den "Guardian" zusammen mit anderen europäischen Politikern eine Diskussion über "weniger Europa" an.
Ein Ziel, viele Wege
Doch so sehr sich die Forderungen aus London, Amsterdam, Wien und Berlin auch decken, so unterschiedlich sind die Pläne, sie umzusetzen. Für Cameron geht der Weg nur über eine Änderung der geltenden Verträge. Die Regierung in Den Haag hingegen will genau das nicht. Auch sonst unternehmen sowohl die niederländische als auch die finnische Regierung viel, um sich von der traditionell europaskeptischen Haltung der Briten abzugrenzen.
Für Cameron bleibt Angela Merkel somit die einzige Hoffnung, um eine Allianz für eine EU-Reform nach seiner Vorstellung schmieden zu können. Auch die Kanzlerin dachte schon laut über die Rückführung von Zuständigkeiten aus Brüssel an die Nationalstaaten nach und tritt offen für Vertragsänderungen ein.
Vieles deutet darauf hin, dass es nach den EU-Wahlen und der Ernennung der Kommission tatsächlich zu einem neuen Verfassungskonvent kommen wird. Schließlich gilt es, die institutionellen Schwächen der EU, die die Wirtschaftskrise offenbart hat, zu beseitigen. Einige Forderungen von Cameron, Rutte und Co wie eine Reduzierung der Regulierungskompetenzen Brüssels und das strikte Einhalten des Subsidiaritätsprinzips werden über Partei- und Landesgrenzen hinweg mitgetragen. Auch Noch-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach davon, dass sich die EU nicht überall einmischen dürfe: "Nicht alles braucht eine Lösung auf europäischer Ebene. Europa muss sich auf jene Angelegenheiten konzentrieren, bei denen sie etwas Wertvolles beitragen kann."
Doch selbst wenn Merkel tatsächlich zu Zugeständnissen in Camerons Sinne bereit wäre, stieße sie wohl auf den Widerstand ihres Koalitionspartners SPD. Beide Seiten verpflichteten sich, eine "integrationsfördernde Rolle in Europa" zu spielen und die gemeinschaftlichen Institutionen, allen voran das Europaparlament, zu stärken. Auch sonst befinden sich die Abschottungsbefürworter unter den Mitgliedsländern in der Minderheit. Derweilen können sie jedoch hoffen, dass sich ihre Haltung angesichts der steigenden EU-Skepsis bei den EU-Wahlen bezahlt macht und sie den Populisten in ihren Ländern das Wasser abgraben. In den Niederlanden hat der Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner Freiheitspartei gute Chancen, die Wahl im Mai zu gewinnen - ähnlich wie die "Wahren Finnen" und die FPÖ hierzulande. Mit der stärker werdenden "UK Independence Party" bläst dem britischen Premier der euroskeptische Wind aus den Hinterbänken seiner eigenen Partei allerdings noch eine gehörige Spur stärker entgegen.
Dennoch: Ein neuer EU-Vertrag muss von allen Mitgliedsländern angenommen werden. Zumindest Cameron könnte sich für sein Referendum und den Verbleib Großbritanniens in der EU dabei das eine oder andere Zugeständnis teuer abkaufen lassen - vorausgesetzt freilich, er wird 2015 wiedergewählt.