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Merkel bröckelt nach Europa auch die deutsche Basis weg

Von Alexander Dworzak

Europaarchiv

SPD will im europäischen Wind zum Sieg im Bundestag 2013 segeln.


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Berlin/Paris. "Gute Zukunft mit Norbert Röttgen und der CDU", prangte am Montag als Hauptmeldung auf der Webseite der deutschen Christdemokraten. Einen Tag, nachdem die CDU bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen das schlechteste Ergebnis aller Zeiten hinnehmen musste; nur knapp mehr als 26 Prozent erreichte. Und nachdem Spitzenkandidat Röttgen die Partei mit einem desaströsen Wahlkampf in Schieflage brachte. Er beschädigte seine Vorsitzende Angela Merkel, indem er eine nicht mehr zu gewinnende Landtagswahl als Plebiszit über ihren Euro-Kurs stilisierte. Mit leeren Händen steht die CDU nun in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland da - während Kanzlerin Merkel alle Hände voll zu tun hat, dass aus dem Düsseldorfer Debakel kein bundespolitischer Flächenbrand entsteht.

Gezündelt wird bereits von Rot und Grün, gefeiert ebenso. Mit 39 Prozent liegen die Sozialdemokraten unangefochten an der Spitze. Dank elf Prozent der Grünen reicht es komfortabel zur Wunschkoalition im Düsseldorfer Landtag. Bereits seit 2010 amtierten SPD und Grüne an Rhein und Ruhr, allerdings als Minderheitsregierung. Mit dem Sieg wittern beide Parteien Rückenwind für eine Mehrheit bei der Bundestagswahl im Jahr 2013; sie wollen Angela Merkel vom Kanzler-Thron stoßen.

Sozialdemokraten und Grüne könnten der CDU in den kommenden Monaten zusetzen - würden sie sich auf eine Linie einigen. Noch vor der parlamentarischen Sommerpause will die Kanzlerin den permanenten Rettungsschirm ESM und das Fiskalpakt unter Dach und Fach bringen. Dazu benötigt sie eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, somit auch die Stimmen von SPD und Grünen. Soll die SPD dem Oppositionsreflex - insbesondere ihres Vorsitzenden Sigmar Gabriel - nachgeben und die anstehende Entscheidung über Merkels Fiskalpakt blockieren? Soll sie es machen wie der frisch gewählte französische Präsident François Hollande? Wäre das im deutschen Interesse? Im Interesse der SPD?

Auf Hollandes Spuren?

Zwischen Merkel und dem designierten Amtsinhaber im Élysée herrscht vor dem ersten Treffen am Dienstag alles andere als Harmonie: Hollandes Forderung nach Neuverhandlungen des Fiskalpaktes, keine Schuldenbremse in der französischen Verfassung und neue Konjunkturprogramme statt Strukturreformen zur Förderung von Wirtschaftswachstum sind nur drei Streitpunkte, die in den kommenden Monaten für Diskussionen zwischen Berlin und Paris sorgen werden.

Auf Hollande setzen die deutschen Roten - zu offensiv dürfen sie das aber nicht. Dank seiner Inthronisierung könnte man den Zeitplan im Bundestag ändern und nur dem ESM vor der Sommerpause zustimmen, hingegen den Fiskalpakt im Herbst ins Plenum bringen. Dazwischen hätte Hollande Zeit gewonnen, um mit Merkel Modifizierungen zu vereinbaren, so die im "Spiegel" kolportierte Hoffnung. Die Opposition könnte damit ihre Forderungen nach Finanztransaktionssteuer und Euro-Bonds wieder ins Gespräch einbringen. Ein Plan, der auch Gefahren birgt: Kanzlerin Merkel könnte die SPD als Partei attackieren, die Europas Stabilität bedroht, die auf einen Schuldenkurs setzt, die deutsches Steuergeld verschleudert. Wenn es um den Sparkurs geht, weiß Merkel die Mehrheit der Deutschen hinter sich - über die Parteigrenzen hinweg. 61 Prozent der Bundesbürger verneinen in einer Umfrage die Möglichkeit, dass die Kanzlerin ihre Position überdenken und EU-Staaten Wachstum durch mehr Schulden finanzieren sollten. Nicht einmal Sympathisanten von SPD, Grünen und der Linkspartei sind mehrheitlich für einen Kurswechsel. Außerdem hält selbst die SPD den Fiskalpakt für richtig - in der Position neuer Stärke möchte sie diesen aber nicht bloß abnicken.

Schwarz-Gelbe Pleiten

Hätte, wäre, könnte. Abseits strategischer Weichenstellungen für die Zukunft hat Angela Merkel harte Brocken in der Gegenwart zu verdauen. Merkel droht, die Basis in den deutschen Bundesländern wegzubröckeln. Elf Niederlagen in Folge bei Landtagswahlen mussten die CDU und ihr liberaler Koalitionspartner im Bund hinnehmen. Zwar bemühen Merkels Gefolgsleute das Diktum, wonach Regionalwahlen anderen Gesetzen gehorchen als eine Bundestagswahl. Nordrhein-Westfalen ist jedoch kein gewöhnliches Land: Über 13 Millionen waren am Sonntag wahlberechtigt, fast jede fünfte Stimme im gesamten Bundesgebiet ist hier zu holen. Auch die Kanzlerin wusste um die Wichtigkeit des Votums: Ganze neun Mal leistete sie CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen Schützenhilfe im Wahlkampf. Geholfen hat es nichts mehr, Röttgen trat angesichts des Debakels bereits Sonntagabend als Landesvorsitzender zurück. Seine Karriere als Umweltminister könnte auch ein Ablaufdatum haben; noch lässt Angela Merkel eine ihrer Stützen im Bund nicht fallen.

Die Kanzlerin muss versuchen, auf der europäischen Bühne Stärke zu zeigen. Kritiker ihrer Schuldenpolitik, insbesondere in Griechenland und Frankreich, können nun genüsslich darauf hinweisen, dass das Rezept der Sparsamkeit in Deutschland ebenso unpopulär ist. "Gute Schulden" und sinnvolle Investitionen in Bildung, Energie und die finanzschwachen Kommunen propagierten Rot und Grün in Nordrhein-Westfalen. Und CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen verstand nicht, dass das Thema Schuldenbremse nicht zur Mobilisierung der Wähler taugt. Die Schlagworte Solidität, Verantwortung und Fiskalpakt sind keine Straßenfeger. Bereits eine Woche zuvor scheiterte die CDU in Schleswig-Holstein mit dem gleichen Rezept. Mit Merkels Euro-Kur.

"Uns ist es nicht gelungen, eine Wechselstimmung im Land zu erzeugen", gab Peter Hintze, Chef der Landesgruppe im Bundestag, unumwunden zu. Von Beginn des Wahlkampfs an hatte sich Spitzenkandidat Röttgen in die Defensive manövriert: Konsequent verweigerte der Umweltminister die Antwort, ob er auch als Wahlverlierer die Oppositionsbank drücken werde - oder nach Berlin zurückkehrt. Einen geradlinigen "Keine neuen Schulden"-Wahlkampf wollte Röttgen machen - und knickte bei erster Gelegenheit ein.

Wider den Bundestrend

Nichts machte den Unterschied zwischen SPD und CDU in Nordrhein-Westfalen (NRW) deutlicher als die Kampagnensologans der Spitzenkandidaten: "NRW im Herzen" lautete die Botschaft von Hannelore Kraft, während NRW bei den Christdemokraten als sprödes Akronym für "Norbert Röttgen wählen" stand. In der herb-herzlichen Hannelore Kraft hat die SPD eine neue Identifikationsfigur mit Ausstrahlung einer Landesmutter. Sie führte die Sozialdemokraten in ihrem Kernland auf 39 Prozent; zum ersten Mal seit zwölf Jahren liegt die SPD wieder vorne. 74 Prozent der befragten Wähler im Land meinten, Kraft versteht, was die Menschen im Land bewegt. Nur 25 Prozent trauten dies ihrem Konkurrenten Röttgen zu.

Rosige Zahlen für die Roten. Doch bundesweit gelingt der SPD und ihrem Wunschpartner von den Grünen nicht der Sprung an die Spitze. Konstant liegt die CDU rund zehn Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten bei derzeit 35 Prozent - aufgrund von Merkels Popularität. An ihrem Image gingen die Wahlniederlagen bislang spurlos vorüber.

Rot-Grün will auch das ändern. Sechs Fraktionen wären nach jetzigem Stand im Bundestag vertreten: CDU, SPD, Grüne, Piraten, FDP und die Linken. "Die Parteienlandschaft ist in Bewegung. Wir müssen uns breit aufstellen", konstatierte CDU-Vizevorsitzende Ursula von der Leyen in einer Talkshow. Die ehemals großen Volksparteien scheinen mehr denn je auf Koalitionspartner angewiesen - einige kommen aber nicht in Frage. An der Linkspartei wollen weder CDU noch SPD anstreifen. Die Linke ist derzeit vor allem mit ihrer Selbstdemontage beschäftigt. Aufgrund interner Querelen schaffte sie auch in Nordrhein-Westfalen nicht den Wiedereinzug in den Landtag. Linken-Größe Oskar Lafontaine liebäugelt bereits mit einer Rückkehr an die Parteispitze. Die Piraten werden allseits als Versuchslabor für neue Formen politischer Beteiligung bestaunt. Sie haben zwar klar den Einzug in den Düsseldorfer Landtag geschafft, für eine Zusammenarbeit auf der Berliner Bühne ist es aber noch viel zu früh. Nicht realistisch scheint eine Koalition zwischen CDU und Grünen, die mehrheitlich zur SPD als Partner tendieren. Die Liberalen strahlen derzeit selbst bei Wahlniederlagen wie in Schleswig-Holstein vor einer Woche, als man fast die Hälfte der Stimmen verlor. "Hauptsache im Landtag", heißt die neue Devise. Konsolidierung ist bei der FDP angesagt, als Mehrheitsbeschaffer ist man derzeit zu schwach.

Unter diesen Voraussetzungen schien bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen eine Koalition zwischen CDU und SPD unter Angela Merkel ab 2013 vorgezeichnet. Mit ihrem Wahlsieg schöpft die SPD neuen Mut, dieses Szenario abzuwenden.