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Dem türkischen Präsidenten wurde durch durchsichtige Taktiererei die Tür zur deutschen Innenpolitik geöffnet.
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Man kann zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan stehen, wie man will; und es gibt wahrlich einiges zu kritisieren - aber es ist verständlich, dass er den Trumpf, den Kanzlerin Angela Merkel ihm mit dem Flüchtlingsdeal - sicherlich ungewollt - zugeschoben hat, nicht ungenutzt wieder hergibt. Euro um Euro, Cent um Cent präsentiert er der Regierung in Berlin die Rechnung für die unsägliche Verweigerungspolitik in Sachen EU-Vollmitgliedschaft der Türkei.
Erdogan hat eines genau erkannt: Merkels durchsichtige Taktiererei hat ihm die Tür zur deutschen Innenpolitik geöffnet. Er kann indirekt Einfluss auf den Ausgang der Bundestagswahl im kommenden Jahr nehmen, indem er den Druck auf die Kanzlerin aufrecht erhält und ihn wohldosiert bis zum Wahltag steigert. Er kann nichts Geringeres, als Merkel politisch bloßstellen, was einen Regierungswechsel zur Folge haben könnte.
Die öffentliche Meinung hierzulande hat Merkel das Vertrauen bereits entzogen, das Erstarken der AfD ist hierfür ein trauriger Beleg. Die Diskussion hat das Stammtisch-Niveau längst überschritten, die Probleme sind zu greifbar und die Menschen der "Ja-Nein-Vielleicht-Politik" der Regierung Merkel überdrüssig.
Eine Kanzlerin, die vor dem Grauen der Anschläge von Paris, und speziell vor dem Redaktionsmassaker bei "Charlie Hebdo", nach Paris fährt und der Satirefreiheit das Wort redet, für sie mit anderen Staatsoberhäuptern demonstriert und dann bei Präsident Erdogan nach Jan Böhmermanns - zweifelsohne gewöhnungsbedürftiger - Satire kuscht, hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Im Gegenteil, es zeigt die menschenverachtende Komponente einer Verschleierungspolitik, in der das Schicksal der Flüchtlinge keinerlei Rolle mehr spielt.
Die Kanzlerin muss zur Bundestagswahl im kommenden Jahr mit Fakten aufwarten, will sie auch nur den Hauch einer Chance haben. Sie hat den türkischen Präsidenten zum Tanz gebeten und muss feststellen, dass er ihr auf dem diplomatischen Parkett auch schmerzhaft auf die Füße tritt. Der Bundestagsbeschluss zum Genozid an den Armeniern und das Drohen der Kanzlerin mit einem Aussetzen der Visafreiheit für Türken haben vor dem Hintergrund der Merkel’schen Verschleierungsrhetorik ihre Wirkung verloren, schlimmer noch: Sie zeigen die Konzeptlosigkeit der deutschen Regierung.
Die Kanzlerin hat ihr Gesicht verloren. Was bleibt, ist das Bild einer Politikerin, die es meisterhaft versteht, politische Strömungen aufzunehmen, um sich dann an deren Spitze zu setzen. Im Falle der Grenzöffnung hat Merkel - so paradox es klingen mag - menschlich richtig, aber unstaatsfraulich gehandelt. In einer Rede an die deutsche Bevölkerung hätte sie ihre Beweggründe für die Flüchtlingsaufnahme erklären müssen. Sie hätte sagen müssen, warum sie ihren Schritt für unabdingbar hielt, und wie sie sich eine Integration vorstellen könnte. Die Menschen hätten ihre Entscheidung mitgetragen.
Stattdessen verkündete sie nach langer Sprachlosigkeit, dass sie einen Plan habe. Wenn es der mit Erdogan war, muss man von einem schlechten Plan oder von Hilflosigkeit sprechen. Merkels Versagen besteht nicht in ihren Entscheidungen, sondern in der Art und Weise, wie sie diese getroffen hat.