Analyse: In der Flüchtlingsfrage ist in Deutschland die Stimmung gekippt.
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Berlin. In Deutschland hat längst wieder die Stunde der Wutbürger geschlagen. Jüngsten Umfragen zufolge hat Kanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage den Rückhalt der Bevölkerung verloren. Nicht einmal die Hälfte aller Deutschen teilen danach die Überzeugung der Kanzlerin, das reichste Land der EU werde den erwarteten Zustrom von insgesamt rund 1,5 Millionen Flüchtlingen bis Jahresende bewältigen. Damit ist die geradezu euphorische Stimmung, mit der noch Anfang September zehntausende Flüchtlinge beispielsweise in München empfangen wurden, völlig gekippt, das paradoxerweise bei einer Frage, bei der die Mehrheit der Deutschen Merkel in ungewohnter Deutlichkeit einen konsequenten Kurs bescheinigt.
Das hat vor allem zwei Ursachen: Mittlerweile gibt es kaum noch eine Kommune, die nicht schon Flüchtlinge aufgenommen hätte oder wo dies nicht kurz bevorstünde. Sich den Neuankömmlingen entziehen kann also niemand mehr. Außerdem häuft sich vor allem in konservativen Medien die Berichterstattung über Eskalationen unter den Flüchtlingen oder Schwierigkeiten von Deutschen im Umgang mit ihnen. Dabei werden vor allem Ängste vor einer Überflutung Deutschlands mit islamischen Fundamentalisten geschürt. Bekräftigen lassen sich diese durch die aktuellen Zahlen nicht. Gerade einmal ein bis zwei Prozent der Flüchtlinge sind laut Daten des Deutschen Frauenrats muslimischen Glaubens. Doch danach fragt kaum jemand.
All das wird noch überlagert durch einen tiefgreifenden Vertrauensverlust. Vor gut einer Woche feierte sich das offizielle Deutschland aus Anlass des 25. Jahrestages der Wiedervereinigung. Die Menschen seien im vereinten Land angekommen. Und anders als in den neunziger Jahren, als viele Spätaussiedler nach Deutschland kamen, griffen Zivilgesellschaft und Politik heute bei der Aufnahme von Flüchtlingen gut ineinander, erklärte Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Festansprache in der Frankfurter Paulskirche.
Flüchtlingshilfe neu definiert
Doch das scheint Wunschdenken. Die Flüchtlingshilfe muss sich angesichts Hunderttausender, die nach Deutschland strömen, neu definieren. Führende Wohlfahrtsorganisationen wie das Rote Kreuz oder der Arbeiter-Samariter Bund schreiben seit September eine Fülle von Vollzeitstellen aus, die in der Regel sofort besetzt werden. Damit treten vielerorts von einem Moment auf den anderen hauptamtliche Kräfte an die Stelle von Ehrenamtlichen, die sich teilweise schon seit Monaten engagiert haben, sich nun aber wegen plötzlicher neuer Strukturen verdrängt sehen, damit nicht mehr anerkannt fühlen und nicht mehr zur Verfügung stehen wollen. Zugleich müssen sich die Neuen noch einarbeiten, das ohnehin labile System der deutschen Flüchtlingshilfe gerät an den Rand des Kollapses.
Albert, als Krankenpfleger an koordinierte Arbeitsabläufe gewöhnt, war über Wochen täglich in einer Notunterkunft in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs. "Ich wollte den Menschen helfen, die hier mit nichts ankommen", erläutert er seine Motivation. Inzwischen hat er sich zurückgezogen. "Es war klar, dass wir bei der Fülle von Spenden erst einmal mehr oder weniger das Chaos gebändigt haben und froh waren, wenn wir jeden Tag halbwegs die Wünsche von Flüchtlingen erfüllen konnten. Aber es kann doch nicht sein, dass wir jetzt zu hören bekommen, dass all unser Einsatz nicht für eine künftige systematische Arbeit taugt", macht er seinem Ärger Luft.
Ehrenamtliche springen ab
Albert ist vor allem empört darüber, dass er und seine Mitstreiter nicht mit Vorstößen gehört wurden, von Anfang an gezielt Spenden zu sammeln. Dies hätte die Akzeptanz der Flüchtlinge in der Bevölkerung deutlich vermindert, hieß es. Albert will nun erst weitermachen, "wenn die sich da oben im Klaren sind, was sie eigentlich wollen". Mehr als die Hälfte der Ehrenamtlichen soll im vergangenen Monat in ähnlicher Weise abgesprungen sein, und das in einem System, das bisher zu 80 bis 90 Prozent allein auf den Schultern von Menschen wie Albert lastete.
Herbert, Pfarrer im Ruhestand, kennt den Ruhrpott aus jahrzehntelanger Seelsorge. Er unterstützt Flüchtlinge bei den ersten Behördengängen und dem Aufbau persönlicher Kontakte. Das laufe sehr gut, zumal die meisten Gemeinden Erfahrungen auch mit der Organisation größerer Hilfsprojekte hätten und über gut eingespielte Strukturen verfügten.
Enttäuscht ist der Pensionist, was die Möglichkeiten zur Vermittlung der deutschen Sprache angeht. Er betreue Familien mit Kindern, die schon seit Monaten keine Schule besuchten, weil sie sich als Bewohner einer Notunterkunft nach offiziellen Aussagen nur ein paar Tagen an einem Ort aufhielten und somit organisatorische Aufwand nicht lohne. Tatsächlich aber kämen die Behörden nicht nach mit der Vermittlung dauerhaften Wohnraums. "Dabei wäre der Schulbesuch so wichtig, damit gerade die Kinder nach Monaten der Flucht wieder ein Zeitgefühl und alle ein Stück weit Eigenverantwortung entwickeln", bedauert Herbert.
Der frühere Pfarrer erfährt in seinem Wirken für Flüchtlinge vor allem Widersprüche. "Auch Menschen, die nicht nachvollziehen können, warum unser Land jetzt so viele Menschen aufnimmt, begegnen mir mit Hochachtung. Allerdings vermittle ich ihnen wohl auch das Gefühl, ihnen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Dabei erfahre ich von unzähligen, aus meiner Sicht häufig abstrusen Ängsten", schildert er seine alltäglichen Eindrücke.
Nicht nur Angehörige der sogenannten unteren Schichten fühlen sich mehr und mehr mit einem Maulkorb versehen, weil sie von offizieller Seite keine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen scheinen. Die meisten beschäftigt, ob sie, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg gang und gäbe war, bald ihre Wohnung mit einem Flüchtling teilen müssen. Immerhin ist seit kurzem in Hamburg Beschlagnahmen erlaubt. Dass es dabei um Gewerberaum geht, ist untergegangen.
Epizentrum Erfurt
Galt im Vorjahr die sächsische Landeshauptstadt Dresden als Keimstatt der bald allgegenwärtigen Montagsprotestmärsche der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida), kommen die jetzt vor allem aus Thüringens politischem Zentrum Erfurt. Von dort schnappen die Wellen schnell über nach ganz Deutschland. Besonders empfänglich scheinen die mit den Flüchtlingen Überforderten in Mecklenburg-Vorpommern.
Die Journalistin Andrea Röpke stellt in ihrem Buch "Gefährlich verankert" fest, nirgendwo in Deutschland seien die Strukturen der Rechtsextremen ausgeprägter als gerade hier. Das nicht einmal 60.000 Einwohner zählende Stralsund war im vergangenen Winter zentrale Anlaufstelle für den Pegida-Ableger in Deutschlands Nordosten. Jetzt ziehen Flüchtlingsgegner mit Vorliebe freitags und in schwarzem Gewand vor den dunklen Backsteinkulissen der Hansestadt ihre Runden. Landtagsabgeordnete der NPD finden sich genauso ein wie der Mensch von nebenan, der in der strukturschwachen Region um seinen Job bangt, weil er gehört hat, dass Asylbewerber künftig sehr rasch Arbeit bekommen können.