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Merkeldämmerung

Von Florian Hartleb

Gastkommentare
Florian Hartleb ist Politikberater, Mitarbeiter der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und lehrt auch an mehreren Universitäten.

Die Kanzlerin scheint die explosive Stimmung in der Flüchtlingsfrage zu unterschätzen. Jeden Tag wird offenbarer: Die Politik fährt auf Sicht.


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Die deutsche Angst, sie ist zurück. Zu gewaltig ist der Flüchtlingszustrom als Folge eines noch nie dagewesenen Migrationsdrucks. Angela Merkel, jüngst vom New Yorker "Time"-Magazin als Person des Jahres und für zehn Jahre Kanzlerschaft gefeiert, wirkt matt, führungsschwach, gar angezählt. Fairerweise muss man sagen, dass die Problematik um die Flüchtlinge gleichermaßen Politik, Behörden und auch Wirtschaft seit September überfordert. Vergleiche mit Gastarbeitern oder Kriegsflüchtlingen vom Balkan hinken daher.

Der emotionale Appell der Kanzlerin "Wir schaffen das!" ist spätestens nach den skandalösen Vorfällen in der Silvesternacht, vor allem am Hauptbahnhof Köln, verpufft. Merkel agierte nach einiger Zeit lediglich über ihren Regierungssprecher. Sie scheint die derzeitige explosive Stimmung zu unterschätzen. Die momentane düstere Stimmung gibt breiten Raum für Rattenfänger am rechten Rand, die in vielen europäischen Ländern bereits fester Bestandteil des Systems sind.

Die Krise der internationalen Politik, der Mangel an europäischer Solidarität, der drohende "Brexit", der Hype um Donald Trump in den USA und die neue Terrorgefahr schüren Ängste in der Bevölkerung.

Jeden Tag wird offenbarer: Die Politik fährt auf Sicht. Die Flüchtlinge wollen ja auch mehrheitlich in das angeblich gelobte Deutschland und zum Beispiel nicht nach Estland. Dorthin etwa kommen weniger, als das Land aufzunehmen bereit wäre. Scheingefechte wie zwischen den Koalitionspartnern und Schwesterparteien um Obergrenzen tragen zur Bewältigung des Problems nichts bei, zumal es die Lösung ja nicht gibt. Viele Kommentatoren aus dem inner- und außereuropäischen Auslands reagieren mit Stirnrunzeln bis Fassungslosigkeit.

Tragischerweise ist, wie etwa das renommierte Allensbach-Institut ermittelte, das Vertrauen in den öffentlichen Diskurs dramatisch gesunken, nachdem das ZDF-"Heute Journal" entschieden hatte, über die Kölner Vorfälle erst einmal nicht zu berichten. Viele deutsche Medien haben jetzt die Kommentarfunktion gelöscht, da das Wort "Lügenpresse" von einer immer stärker werdenden Minderheit gebraucht wird.

Die Rede vom syrischen Arzt war eine Mär. Das musste mittlerweile auch die Poliik eingestehen. Wenn überhaupt, sind die Flüchtlinge die Hilfsarbeiter von morgen und die Facharbeiter von übermorgen. Deutschland war vor wenigen Monaten auf 50.000 Flüchtlinge eingestellt. Nun gibt es, eigentlich eines Rechtsstaates unwürdig, ein Vielfaches an unregistrierten mehr. Offiziell ist seit Dezember die Millionengrenze bereits geknackt.

Die politischen Entscheidungsträger wissen, dass ohne den starken Einsatz von ehrenamtlichen Helfern das System schon zusammengebrochen wäre. Fatal war die Aussage, der Wintereinbruch werde das Problem schon lösen. Merkel klammert sich an den unsicheren Kantonisten Türkei, ebenso ans dauerkriselnde Griechenland, um mit Geld, im Grunde Subventionen, die Grenzen zu sichern.

Fest steht: Die EU ist in der schwersten Krise seit ihrer Gründung. Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass Grenzkontrollen und Mauerbauten in der EU selbst nun wieder an der Tagesordnung sind? Deutschland ist noch eine Ausnahme.