Merkels Besuch könnte Erdogan politischen Spielraum verschaffen.
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Istanbul. In der südostanatolischen Großstadt Cizre machen sich die Menschen derzeit keine Gedanken um den Besuch von Angela Merkel am Sonntag in Istanbul. "Davon erwarte ich nichts", sagen viele. Natürlich haben sie von der europäischen Flüchtlingskrise gehört, aber sie quälen derzeit andere Sorgen: vor allem die eskalierende Gewalt durch den wieder aufgeflammten Bürgerkrieg zwischen der Armee und der Kurdenguerilla PKK, bei dem allein in Cizre seit Ende Juli schon 22 Zivilisten starben.
Das Flüchtlingsproblem kennen die Menschen, denn in der türkischen Kurdenregion gibt es nicht nur riesige staatliche Lager für arabisch-sunnitische Flüchtlinge, sondern auch kommunale Lager für insgesamt rund 30.000 Jesiden aus dem Irak, die von den kurdischen Kommunen mit ihren beschränkten Mitteln versorgt werden. "Es ist sinnlos, in der Türkei zu bleiben", sagt der 25-jährige Mirza Isho, der wie andere Jesiden aus dem Sindschargebirge erst in die nordirakische Stadt Dohuk und dann in die Türkei flüchtete. Jetzt lebt er in einem Lager bei Cizre, wo "die PKK", wie er sagt, für knapp tausend Jesiden sorgt.
Weil sie in den Camps keine Perspektive sehen, erklären jesidische Flüchtlinge in der Türkei oft, dass sie nach Deutschland wollen, wo viele ihrer Verwandten leben.
Eingriff in Wahlkampf
Nicht nur die türkischen Bürger, auch die Medien sind ein wenig ratlos ob Merkels überraschenden Blitzbesuches. Sie wundern sich nicht nur über den Zeitpunkt - zwei Wochen vor einer wichtigen Parlamentswahl, sondern auch über das plötzliche Interesse der Europäer an ihrem Land, das im Beitrittsprozess zur EU bisher brüskiert und hingehalten wurde.
Der Chefredakteur der liberalen "Hürriyet Daily News", Murat Yetkin, analysiert: "Wie sollen wir Merkels plötzliche Wiederentdeckung der Bedeutung der Türkei interpretieren? Sollen wir denken, dass ihre Aufwartung bei Erdogan lediglich ein Beispiel für Heuchelei ist? Oder kann es sich dabei um das Stück ‚nationale Interessen über alles‘ handeln?"
Da die Kanzlerin aber gleichzeitig klarmachte, dass die Charmeoffensive nichts an ihrer ablehnenden Haltung zum türkischen EU-Beitritt ändere, bestätigt sie die verbreitete Auffassung, man könne Brüssel und Berlin nicht trauen. Zudem erscheint die Summe von 500 Millionen Euro, die beim EU-Flüchtlingsgipfel als Hilfe für Ankara beschlossen wurden, angesichts der Aufgaben viel zu gering.
Kommentatoren fragen sich, wieso die EU die Türkei als ihren Torwärter beschäftigen will, anstatt endlich an einer Verbesserung der Situation in Griechenland, Italien und Bulgarien zu arbeiten. Sie registrieren zwar, dass die EU nun auf die Hilfe Ankaras angewiesen scheint, aber sie verstehen die aus ihrer Sicht unwürdige Art des Vorgehens nicht. So spekuliert die linkskemalistische Zeitung "Cumhuriyet", dass die deutsche Kanzlerin Präsident Erdogans Zustimmung zur Flüchtlingsbegrenzung benötige, "um ihren heimischen Popularitätsverlust wettzumachen".
Andere sehen in Merkels Aufwartung einen unangemessenen Eingriff in den türkischen Wahlkampf, der den immer autoritärer agierenden Präsidenten Erdogan, dessen Partei sich schon vor dem Anschlag in Ankara in einem Stimmungstief befand, innenpolitisch aufwerten könnte. Erdogan hat die Chance ergriffen und bereits mit dem Feilschen begonnen. Das spiegelt sich auch in dem Mini-Kompromiss mit der EU wider, der vor allem eine bessere Ausstattung der türkischen Flüchtlingslager vorsieht.
Dabei sind die staatlichen Camps ohnehin hervorragend ausgestattet. Nur die Ärmsten bleiben, wer kann, fährt nach Izmir, bezahlt einen Schleuser und setzt nach Lesbos über. "Sie sehen hier keine Zukunft, die Türkei hat weder eine Asyl- noch eine Integrationspolitik", sagt der Migrationsforscher Murat Erdogan. Ankara kann in der Asylfrage zwar noch viel tun - etwa die Grenzkontrollen verbessern - aber das Schwellenland mit seiner hohen Arbeitslosigkeit kann hunderttausende ausländische Billigarbeiter auf Dauer nicht tolerieren.
Hilfe für Irak sinnvoller
Unterdessen legt Erdogan die Latte der Forderungen so hoch es geht: weitgehende Visafreiheit für Türken im Schengen-Raum, Einrichtung von Sicherheitszonen in Syrien, Zugriff auf EU-Gelder für seinen klammen Staat. Ministerpräsident Davutoglu hat das europäische Ansinnen, hunderttausende Flüchtlinge in der Türkei zu internieren, mit dem Satz "Wir wollen keine Konzentrationslager" zurückgewiesen.
Mit der plötzlichen Wiederentdeckung der Bedeutung der Türkei manövriert sich die EU ebenso in eine Sackgasse wie mit ihrer kurzsichtigen Nahostpolitik insgesamt. In der Türkei leben bereits mehr als zwei Millionen syrische und irakische Flüchtlinge. Wenn sie wollen, werden sie ihren Weg nach Westen finden. Profitieren werden die Schleuser.
Viel sinnvoller wären nachhaltige Maßnahmen, damit die Flüchtlinge gar nicht erst ins Transitland Türkei reisen. Will man Flüchtlingslager verbessern, dann sollte man das beispielsweise im Nordirak tun. Dort leben rund 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge sowie aus Syrien geflohene Kurden unter furchtbaren Umständen. Im Nordirak zu helfen, würde die zu erwartende nächste Flüchtlingswelle eindämmen.
Es wäre eine Überraschung, würde Merkels Besuch nicht einen neuen Imageschaden für Deutschland und die EU bedeutete. Für Erdogan eröffnet er neue innenpolitische Spielräume. Türkische Kurden warnen davor, sie erneut für kurzfristige und unkalkulierbare Vorteile den "übergeordneten Interessen" zu opfern. Es scheint, als würde sich die deutsche und europäische Außenpolitik gerade mächtig in den Fallstricken des Nahen Ostens verheddern.
Der Flüchtlingskrise-Aktionsplan der EU sieht Visafreiheit für die Türkei im Schengenraum vor. In Aussicht gestellt werden zudem Milliardenhilfen sowie Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen. Im Gegenzug verspricht Ankara bessere Grenzsicherung, die Registrierung und Rücknahme von Flüchtlingen sowie eine bessere Integration Schutzsuchender am Arbeitsmarkt.