Bundeskanzlerin hat von Vorgängern gelernt. | Bürger sehen kaum Alternativen.
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Berlin. "Wir leben in einer Demokratie und nicht in einer Demoskopie", sagte einst der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz. Tatsächlich liefern Meinungsforscher mitunter Ergebnisse, die politisch "unerfüllbar" sind. Beispiel gesetzliche Krankenversicherung: Ihr droht im kommenden Jahr ein Sieben-Milliarden-Defizit. Dafür gibt es nur drei "Stellschrauben": Höhere Kassenbeiträge, höhere Steuern oder weniger Leistungen. Lösung eins wird von 80 Prozent der Deutschen abgelehnt, Lösung zwei von 75 und Lösung drei von 70 Prozent. Mit anderen Worten: Wo immer die Regierung den Hebel ansetzt, sie hat immer mindestens zwei Drittel der Bevölkerung gegen sich.
Ähnlich steht es mit der Beliebtheit der Großen Koalition. Erstmals überwiegt die Unzufriedenheit mit der schwarz-roten Regierung. Fragen die Demoskopen aber nach Alternativen, so schneiden die anderen noch schlechter ab.
Nach anfänglicher Euphorie - manche sprachen sogar von "Merkel-Mania" - kehrte der Polit-Alltag ein, der angesichts des umfangreichen Problemkatalogs nur grau sein kann. Nach wie vor stehen die hohe Arbeitslosigkeit, die Ausdünnung des Ostens, das Haushaltsdefizit, die Abwanderung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, das schlechte Bildungsniveau, die Ausländerproblematik, die Überalterung der Gesellschaft und das marode Gesundheitswesen auf der Reform-Agenda. Ein Mammutprogramm. Ärztestreiks sind dabei fast nur Begleitmusik.
Stabile Werte trotz gesunkener Euphorie
Was bisher eindeutig feststeht, sind Belastungen: Steuererhöhungen, Kürzung der Pendlerpauschale, höhere Kassenbeiträge. Kein Grund zum Jubel also. Umso überraschender ist es, dass Unmut und schlechte Laune der Bürger sich in Grenzen halten.
Seit dem Wahltag vor einem Dreivierteljahr sind die Umfragewerte für die Parteien erstaunlich stabil. Es ist ein politisches "Naturgesetz", dass die Sympathiewerte jeder neuen Regierung nach deren Arbeitsbeginn drastisch verfallen. Das Kabinett Merkel-Müntefering konnte diesen Verfall in Grenzen halten. Wären am kommenden Sonntag Wahlen, käme vermutlich ein ähnliches Ergebnis zustande wie bei der Bundestagswahl am 18. September 2005 (siehe Kasten).
Fußball-WM und sanfte Härte
Dies liegt sowohl an endogenen als auch an exogenen Faktoren. Zu den von außen beitragenden Faktoren zählt der wirtschaftliche Aufschwung, der allmählich spürbar wird. Und die Fußball-WM, die glimpflich verlief, was die Sicherheit betraf und triumphal, was die Stimmung und den neuen, lächelnden Patriotismus anlangte.
Die hausgemachten Faktoren sind das, was die staunende Öffentlichkeit als "neuen Politikstil" erlebt. Noch in den Koalitionsverhandlungen war die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin heftig umstritten. Heute zieht sie niemand mehr in Zweifel. Die "sanfte Härte", mit der diese mutige Frau das männliche Löwenrudel bändigt, ringt Respekt ab. Die hungrigen Raubtiere sitzen überall: In den Bundestagsfraktionen, in denen sich Hinterbänkler über die Macht des Koalitionsausschusses ärgern, in den Ländern, deren Fürsten sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, in den mächtigen Interessenlobbies, denen die Reformen zu weit oder zu wenig weit reichen.
Die Kanzlerin hat von den Vorgängern - Kohl und Schröder¨- gelernt. Von Kohl, dass man nicht täglich zu allem und jedem Stellung nehmen muss, was Kritiker auch als "Aussitzen" bezeichnen. Von Schröder, wie man es nicht macht: zum Beispiel, dass man sich in seinem Reformeifer nicht überheben darf. Schröder selbst hatte eingestanden, man habe zu viel zu schnell gewollt, so dass handwerkliche Fehler geradezu unausweichlich gewesen seien. Merkel setzt auf "Eile mit Weile".
Keiner aber hatte es mit einer so divergierenden Truppe zu tun wie Merkel: In nahezu allen Positionen standen sich SPD und Union diametral gegenüber. Der Wahlkampf hatte die Gegensätze noch zugespitzt. Und nun sollten Feuer und Wasser eine Ehe eingehen... Dieser "compromesso storico" (historischer Kompromiss) wurde in der sechzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik erst ein einziges Mal geschlossen und er hielt nicht einmal drei Jahre. Heute hingegen sind acht von zehn Bundesbürgern überzeugt, dass diese Koalition die ganze Legislatur durchhalten werde.
Bonus durch Präsenz in der Außenpolitik
Zweifellos trägt zu der verhältnismäßig erträglichen Stimmung der internationale Prestigegewinn Deutschlands bei. Angela Merkel macht auf diplomatischem Parkett eine außergewöhnlich gute, sichere und souveräne Figur. Schon kurz nach ihrem Amtsantritt verblüffte sie die Weltöffentlichkeit, als sie den Streit zwischen Chirac und Blair über die EU-Finanzen beilegte. Sie war mutig genug, nicht nur die Freundschaft mit den USA wieder aufleben zu lassen, sondern gleichzeitig die Schließung von Guantanamo-Bay zu fordern. So konnte sie zeigen, dass das transatlantische Bündnis nicht mit einer Vasallenabhängigkeit zu verwechseln ist. Der größte Unterschied zu ihrem Vorgänger - sie torpediert nicht die westliche Phalanx durch Selbstneutralisierung, sondern findet klare Worte zum Iran, zu Nordkorea oder auch jüngst zum Nahen Osten. Bei ihren außenpolitischen Erfolgen kommt ihr zugute, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) kein Glamour-Boy ist wie sein Vorgänger Joschka Fischer und die gleiche sachbezogene Nüchternheit hat wie seine Kabinettschefin.
In der Außenpolitik hat sie neue Schwerpunkte gesetzt, etwa das Ziel einer europäischen Verteidigungsunion, ein interessanter Akzent, den sie unterfüttert durch die Entsendung deutscher Soldaten in den Kongo. Außerdem will man einen europäischen Sitz im UNO-Sicherheitsrat anstreben. Auch das ist neu. Die Vorgängerregierung hat demgegenüber immer auf einen deutschen Sitz gepocht.
Vieles angepackt und auf den Weg gebracht
Dagegen verblassen natürlich die Erfolge im Inneren, die sich nach dem ersten Siebentel der Regierungszeit gleichwohl sehen lassen können. Vieles wurde angepackt und auf den Weg gebracht.
Die Föderalismusreform zum Beispiel, die das Kräfteverhältnis zwischen Bund und Ländern neu definiert und den Kompetenz-Wirrwarr entflicht. Dadurch können Entscheidungen rascher fallen, weil Bundestag und Bundesrat einander nicht mehr so oft blockieren können. Oder die "Hartz-IV-Reform", die den Missbrauch von Arbeitslosengeldern eindämmt. Oder die Eckpunkte zur Gesundheitsreform - wohl eines der schwierigsten Kapitel zwischen den Koalitionspartnern. Auch hier scheint der Durchbruch gelungen.
Die Reform des Gesundheitswesens und die Unternehmensteuerreform kommen bis zum 1. Januar 2007. In beiden Fällen haben Koalitionsausschuss und Kabinett bereits grünes Licht gegeben. Bei der Unternehmensteuerreform will man Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften um 5 Milliarden Euro entlasten. Das Prinzip: Niedrigere Steuersätze, aber dafür eine breitere Bemessungsgrundlage.
Dampf ablassen ist nützlich
Merkel hat - im Gegensatz zu Schröder - einen Energiegipfel zustande gebracht. Bemerkenswert, dass neben der konventionellen Stromwirtschaft auch Vertreter der "erneuerbaren Energien" anwesend waren. Ein deutliches Zeichen, dass die frühere Umweltministerin Merkel nicht einseitig auf fossile und nukleare Energie setzt. Und für erneuerbare Energien werden mehr Investitionen erwartet als für die konventionellen. Ein Integrationsgipfel in der Vorwoche holte erstmals alle mit dem Zukunftsproblem Nummer 1, der Zuwanderung, befassten Einrichtungen an einen Tisch.
Sicher mangelte es nicht an Heckenschützen und mitunter bösen Verbalattacken gegen die erfolgreiche Kanzlerin. Doch kommen diese meist nicht aus dem Regierungsteam selbst, das nach wie vor harmonisch zusammenarbeitet.
"Dieses öffentliche Dampfablassen ist ja in der Politik kein ungewöhnlicher Vorgang. Ein mediales Sommertheater wie das jetzige hat zudem immer auch die Funktion, Grenzen deutlich zu machen, für den Koalitionspartner aber auch zur Beruhigung der eigenen Fraktion", meint dazu die Wochenzeitung "Die Zeit". Gerade eine Große Koalition braucht solche Ventile, damit der Druck im Innern nicht zu groß wird.
Wählergunst
Die Union in Deutschland hat sich laut einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage in der Wählergunst von ihrem Jahrestief leicht erholt. In der Erhebung des Forsa-Instituts für "stern" und RTL stieg die Partei im Vergleich zur Vorwoche um einen Punkt auf 33 Prozent. Die Unzufriedenheit mit der Regierung wirkt sich weiter auch auf den Koalitionspartner SPD aus, der bei 28 Prozent stagniert.
Die Werte der anderen Parteien änderten sich nicht: Die FDP erreichte in der Umfrage 14 Prozent, Linkspartei und Grüne blieben bei je zehn Prozent. "Sonstige Parteien" sanken um einen Punkt auf fünf Prozent. Ungewöhnlich hoch ist der Anteil der Unentschlossenen, der bei 32 Prozent liegt. Befragt wurden 2.499 repräsentativ ausgewählte Deutsche von 10. bis 14. Juli.