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Merz’ Asyl-Eigentor

Von Alexander Dworzak

Politik

Der Kandidat für den CDU-Vorsitz stellt das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte infrage und rudert nach Kritik zurück.


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Berlin/Wien. Von Mitgliedern und Funktionären wird Friedrich Merz gefeiert, seitdem der "Anti-Merkel" seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz bekanntgab. In den Medien dominiert ein ambivalentes Bild, seit die Aktivitäten des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock unter die Lupe genommen werden, wo der 63-Jährige Aufsichtsratschef der Deutschland-Abteilung ist. Dazu kommen Merz’ ungelenker Umgang mit seinem Vermögen und Häme über sein Privatflugzeug. Schon machen Vergleiche mit dem Absturz von SPD-Kurzzeithoffnung Martin Schulz die Runde. Zur Halbzeit des Kandidatenrennens - am 7. Dezember wählen rund 1000 CDU-Delegierte den neuen Vorsitz - wollte sich Friedrich Merz wieder mit politischen Positionen ins Gespräch bringen. Er wählte dafür das emotional größtmöglich aufgeladene Thema: die Flüchtlingspolitik.

"Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, in dem ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung verankert ist", sagte Merz am Mittwoch in Thüringen, wo er sich gemeinsam mit dem anderen CDU-Kandidaten Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn bei der Parteibasis vorstellte. Die Ansage saß, tags darauf war Merz Dauerthema. Übte er doch Kritik an der deutschen Verfassung.

1,3 Prozent der Anträge

"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", lautet Artikel 16a, Absatz eins des Grundgesetzes. Nach NS-Regime und Zweitem Weltkrieg schuf die BRD damit ein einklagbares Recht auf Asyl. Tür und Tor für Asylwerber sind aber nicht geöffnet, dafür sorgen mehrere Gesetzeszusätze, die zuletzt 1993 beschlossen wurden. Denn im Jahr zuvor hatten 440.000 Personen Asyl beantragt.

Nach Beginn der Flüchtlingskrise 2015 wurde jedoch nur ein verschwindend kleiner Teil der Antragsteller als asylberechtigt nach dem Grundgesetz anerkannt. 2015 waren es 0,7 Prozent. Im Jahr darauf erreichte die Zahl der entschiedenen Asylanträge mit 695.000 ihren Höchststand; aber nur 0,3 Prozent der Asylberechtigten fielen unter das Grundgesetz. Seitdem hat sich die Quote auf 0,7 Prozent 2017 und 1,3 Prozent von Jänner bis Oktober 2018 erhöht. Davon betroffen waren heuer 2403 Personen - von knapp 187.000 Antragstellern.

Die weitaus größere Zahl an anerkannten Flüchtlingen resultiert aus dem deutschen Asylgesetz. Demnach gilt als Flüchtling, wer "aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" gehört. Dieses Jahr gaben die Behörden 31.057 Personen diesen Status, das entspricht 16,6 Prozent der Antragsteller. Das Asylgesetz sparte Merz jedoch in seiner Kritik aus.

Und so hatten Merz’ Gegner leichtes Spiel: "Die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl oder eine Einschränkung halte ich mit dem Wesenskern der CDU und dem Erbe von Helmut Kohl für nicht vereinbar", richtete Annegret Kramp-Karrenbauer aus. Jens Spahn erklärte das Grundrecht auf Asyl zur "großen Errungenschaft unseres Grundgesetzes". Auch SPD, Grüne, FDP und Linkspartei kritisierten Merz, die AfD verteidigte ihn.

Als Befreiungsschlag gedacht, brachte das Asylthema Merz derart in die Defensive, dass er per schriftlicher Erklärung einen Rückzieher machte: "Ich stelle das Grundrecht auf Asyl selbstverständlich nicht in Frage." Er bemühte dabei die "christliche Verantwortung" und den "Hintergrund der deutschen Geschichte".

Auch beim Europakontext seiner Asylpolitik ruderte Merz zurück. In Thüringen fragte er noch, ob das Asylgrundrecht "in dieser Form fortbestehen" könne, sollte eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik ernsthaft gewollt werden. Später ließ er das Grundgesetz beiseite: "Für mich steht aber fest, dass wir die Themen Einwanderung, Migration und Asyl nur in einem europäischen Kontext lösen können."

In der Grundrechte-Charta der EU ist in Artikel 18 das Asylrecht verankert. Dort wird unter anderem auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verwiesen. In letzgenanntem Dokument postulieren die EU-Länder das Ziel einer "gemeinsamen Politik im Bereich Asyl". Lang ist die Liste der Reformbemühungen seit 1999: Tampere Programm, Haager Programm, Stockholmer Programm und Post-Stockholm-Programm. 2013 wurde schließlich das Gemeinsame Europäische Asylsystem neu geregelt.

Europäische Uneinigkeit

Die Flüchtlingskrise legte aber die Schwächen des Systems offen. Noch immer gibt es keine einheitliche Asylverfahrensordnung, die Chancen auf Asyl sind von Land zu Land unterschiedlich. Vor allem aber wird seit Jahren über eine Reform der Dublin-Verordnung debattiert. Derzeit ist jenes Land für das Asylverfahren zuständig, in dem ein Antragsteller erstmals die EU betreten hat. Die südlichen Grenzstaaten fordern daher verpflichtende Aufnahmequoten, stoßen damit aber insbesondere bei den mittelosteuropäischen Visegrad-Ländern und Österreich auf Ablehnung.

Weil kein Kompromiss in Sicht ist, priorisieren die EU-Staaten den verstärkten Außengrenzschutz; Topthema beim EU-Gipfel Ende Juni. Still ist es aber um die damalige Forderung nach "Anlandeplattformen" geworden, einer Umschreibung für Auffanglager. Die umworbenen südosteuropäischen Länder wie Albanien lehnten ebenso ab wie afrikanische Mittelmeerstaaten.

Die Uneinigkeit geht so weit, dass die EU-Operation Sophia zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität im Mittelmeer Ende 2018 das Aus droht. Wie bei Dublin dreht sich alles um den Verteilungsschlüssel: Italien will nicht mehr den Großteil der pro Monat rund 180 von Sophia-Schiffen geretteten Migranten aufnehmen.

Um all diese Missstände kann sich Merz aber nicht kümmern, sollte er Parteichef werden. Das ist Sache der Regierungsspitze. Und die Kanzlerin heißt auch nach dem Wechsel an der CDU-Spitze Angela Merkel.