Nach wochenlangen Straßenblockaden und gewaltsamen Protesten gegen die Regierung trat Boliviens Präsident Carlos Mesa nun die Flucht nach vorne an. Weil sich der Kongress bisher zu keiner Krisenstrategie durchringen konnte, ordnete er persönlich ein Autonomiereferendum und die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung an. Stichtag ist der 16. Oktober.
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Die Stimmung in dem lateinamerikanischen Land ist überaus angespannt. Am Donnerstag setzten in der Hauptstadt Tausende Bauern, Bergarbeiter, Indianer, Studenten und linke Oppositionsanhänger die Hauptstadt La Paz lahm, um von der Regierung eine Renationalisierung der Energiereserven und eine neue Verfassung zu erzwingen, die der indigenen Bevölkerung mehr Anteil am Erdölreichtum des Landes und mehr politische Mitspracherechte sichern soll. Es sind die größten Unruhen seit Mesas Amtsantritt vor 19 Monaten.
Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, gab er nun grünes Licht für die Wahl zu einer verfassungsgebenden Versammlung im Herbst. Das Referendum, das den einzelnen Regionen mehr Selbstbestimmung gegen über La Paz garantieren soll, ist wiederum ein Zugeständnis an die wohlhabenden Provinzen im Osten des Landes, in denen die weiße Wirtschaftselite sich und den transnationalen Konzernen die Gewinne aus den großen Öl- und Gasfeldern sichern - während die Urbevölkerung in den verarmten Andenregionen ihr Dasein fristet. Angesichts der explosiven Lage im Land habe er nicht mehr bis zu einer Entscheidung des Parlaments warten können, sagte Mesa am Donnerstag in einer überraschend anberaumten Fernsehansprache. Kurz zuvor hatte sich der Kongress erneut nicht auf einen Kompromiss zur Befriedung des Konflikts einigen können und sich auf kommenden Dienstag vertagt. Während die Abgeordneten und Senatoren des reichen Ostens zunächst die Autonomiefrage klären wollten, forderten die Vertreter der Urbevölkerung zunächst eine Neuaufteilung der Macht.
Staat oder privat
Mesa forderte eine rasche Beilegung der Krise im Land und forderte die Kirche auf, in einem nationalen Dialog zu vermitteln. Ausgelöst hatte den Konflikt ein Streit um die Besteuerung des Rohstoffsektors. Ein Mitte Mai verabschiedetes Gesetz, wonach private Öl- und Gasunternehmen aus dem In- und Ausland eine Abgabe von 18 Prozent und eine Steuer von 32 Prozent zahlen müssen, ging Linksopposition und Gewerkschaften nicht weit genug. Die Regierung wiederum lehnt weitere Zugeständnisse ab, um die 26 seit der Privatisierung der Rohstoffreserven 1996 operierenden ausländischen Konzernen nicht zu vergraulen. Bolivien, das ärmste Land Südamerikas, verfügt nach Venezuela über die zweitgrößten Gasreserven des amerikanischen Kontinents.
Den Zorn der Armen hatte schon Mesas Vorgänger Gonzalo Sanchez de Lozada getroffen. Er wurde nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei im Oktober des Vorjahres nach nur 14 Monaten aus dem Amt gefegt. Schon damals hießen die Forderungen mehr Mitspracherecht für die indigene Bevölkerungsmehrheit, mehr staatliche Subventionen für die Bauern aus den Industriestaaten und vor allem Renationalisierung der Erdgasindustrie.