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Metamorphosen des Kiez

Von Stefan May

Reflexionen

Das Hamburger Stadtviertel Sankt Pauli, einst Zentrum der Prostitution und des Glückspiels, verändert sein Gesicht: Die Reeperbahn mutiert zur Partymeile, das Establishment hält Einzug, die Mieten explodieren.


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Die zwei Seiten des "Latte Macchiato-Boulevards" in St. Pauli: links eine besetzte Ruine, rechts die gentrifiziere Häuserzeile.
© Foto: Stefan May

"Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins", sang einst Hans Albers. Um diese Zeit an diesem Ort lebt auch heute noch das Klischee: Angetrunkene Männer, die in gleichfarbigen T-Shirts Junggesellenabschied feiern, schlingern durch die Menge, eine Prostituierte ruft einer Touristin auf der anderen Straßenseite, die ein Restaurantschild über ihr fotografieren will, rüde zu: "He, tu die Kamera weg", Koberer (für Nicht-Hanseaten zur Erklärung: Türsteher, Anm. d. Red.) versuchen Passanten in die von zuckenden Lichtern umrahmten Etablissements zu locken.

Und doch hat sich etwas verändert. Die Reeperbahn, knapp einen Kilometer lange pulsierende Hauptschlagader des Hamburger Stadtteils Sankt Pauli, ist heute eine Partymeile mit an die 30 Millionen Besuchern im Jahr. Früher war sie Zentrum für Prostitution und Spielhallen. "Die Prostitution geht zurück, weil sich die Freier nicht mehr hin trauen", sagt Stadtführer Tomas. "Aber die Edelprostitution boomt, weil es heute für den Geschäftsmann nichts Verwerfliches mehr ist, sich eine Dame ins Hotel zu bestellen."

Neue Besucherschicht

Und die Seeleute aus dem nahen Hafen, die einst das Stammpublikum der Reeperbahn ausgemacht hatten? "Welche Seeleute?", fragt Tomas zurück. "Auf einem Containerschiff arbeiten acht Leute, das fährt nach ein paar Stunden Liegezeit wieder aus, und die Filipinos können sich einen Landgang nicht leisten."

Den Besuch der Reeperbahn leisten sich hingegen nun Menschen, die vor Jahrzehnten noch einen großen Bogen um den einstigen Rotlichtbezirk gemacht hätten. Ein halbes Dutzend Operettentheater und Musical-Stätten haben sich in den letzten Jahren fast Tür an Tür etabliert. "Die heiße Ecke" läuft schon seit mehreren Jahren im Theater Tivoli: ein Musical über das Viertel Sankt Pauli, ein etwas romantisierter Blick auf den Stadtteil im 24-Stundenraffer.

"Das Stück bildet etwas ab, das es gibt, aber überhöht", sagt Norbert Aust, einer der beiden Geschäftsführer des Tivoli. Wir sitzen auf der Terrasse der Bar des nahen Schmidt-Theaters. Aust, ein emeritierter Wirtschaftsrechtler, war Präsident der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik. In den 80er Jahren hat er das Veranstaltungszentrum Kampnagel mit aus der Taufe gehoben. Als der Mietvertrag für das Löwenbräu, ein mit Eternitfassade verkleideter Altbau und in seiner Aufmachung auf "Zillertal" ausgelegt, auslief, legte Aust ein Konzept für ein nicht subventioniertes Theater vor - das heutige Tivoli.

Aust ist auch in der Interessengemeinschaft Sankt Pauli aktiv: "Es gibt eine dichte Nachbarschaft", sagt er. "Sankt Pauli hält zusammen, lässt sich nicht alles gefallen." Als es galt, die legendäre Kultkneipe "Zum Silbersack" zu retten, erwarben mehrere Investoren diese gemeinsam und versprachen, solange sie ihnen gehöre, werde sie nicht geschlossen. Etwas, das es früher nicht gegeben hätte. Die Übergänge sind fließend geworden. Bisher wollte selbst der einstige Bundeskanzler aus Hamburg, Helmut Schmidt, seinen Fuß nicht nach Sankt Pauli setzen, inzwischen kommen die Hamburger zu Kulturgenuss und gutem Essen.

In früheren Jahrhunderten lag das zwei Quadratkilometer große Sankt Pauli im Niemandsland zwischen Hamburg und dem zu Dänemark gehörenden Altona. Hamburg schob dorthin alles ab, was es nicht innerhalb seiner Mauern haben wollte: den Schlachthof, die Viehhalle. Immer schon siedelte hier ein buntes Volk, tolerant und vielfältig. Das hat sich nicht geändert, doch das Biotop ist bedroht.

Unstimmigkeit im Kiez

Zu Mittag wirkt die Gegend um die Reeperbahn nahezu verträumt. Im "Ali-Barber-Shop" eines Friseurs stehen Schiffsmodelle, das "elbwerk" bietet Frühstück bis 15 Uhr an. "Moin", der tageszeitunabhängige Gruß der Hamburger, prangt oben auf der Schiefertafel. Dahinter blickt man auf die Masten der Schiffe unterhalb der Stadtkante und die Elbe im Dunst. In einem streng riechenden Groß- und Einzelhandelsladen werden Pfefferspray und Sicherheitsschlösser angeboten - auch wenn man sich hier keineswegs unsicher fühlt.

In der Bernhard-Nocht-Straße stößt man auf die aktuellen Unstimmigkeiten im Grätzel, dem Kiez. An einem bunt beschmierten Haus können Meinungen zur Zukunft des Bernhard-Nocht-Kiezes abgegeben werden: "Wir sind hier, und wir gehen hier nicht weg", steht da trotzig, oder, drohender: "Auch überteuerte Wohnungen lassen sich besetzen." Ein paar hundert Meter weiter, unterhalb der Stadtkante, in der Hafenstraße hat es in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den Hausbesetzungen begonnen.

"Mein Vorschlag: Besitzer auswechseln, Bewohner behalten", hat ein anderer hingeschrieben. Der nächste meint: "Sankt Pauli bleibt, wie es ist - international und illegal." Das ist nicht so sicher. Stadtführer Tomas spricht von Gentrifizierung und führt an einen Ort, wo das Auswechseln von alteingesessener Bewohnerschaft gegen neu Zugezogene fast mit Händen greifbar ist: In der Straße mit dem Namen "Schulterblatt" wird die eine Seite von frisch renovierten Altbauten gesäumt. Davor haben Lokale ihre Gastgärten eingerichtet. "Man nennt das hier den Latte Macchiato-Boulevard", sagt Tomas. Damit wird abschätzig auf die gut verdienenden jungen Selbstständigen Bezug genommen, die sich in verstärktem Ausmaß mit ihren Familien hier ansiedeln. Allein im nördlichen Sankt Pauli sollen sich 400 Werbeagenturen niedergelassen haben.

Auf der anderen Straßenseite vergammelt eine Ruine: Die rote Flora, einst Kino, dann Einkaufszentrum. Auf den Stufen des Eingangs liegen Obdachlose auf Schlafsäcken, das Gebäude ist rundherum mit Losungen beschmiert.

Hier spielten einst die Beatles.
© Foto: Stefan May

Bevölkerungsaustausch

Der Investor kann derzeit nichts aus dem Haus machen, weil es seine Besetzer nicht zulassen. "Das waren junge Leute, Studenten", sagt Norbert Aust, "die sind immer der Beginn der Gentrifizierung." Das geplante Theater wurde als "Neue Flora" ein paar Straßenzüge weiter an einer S-Bahnstation errichtet.

Norbert Aust hat Verständnis dafür: "Das wäre auch nicht gut gewesen in einem Wohnviertel, bei 2000 Sitzplätzen, mit an- und abfahrenden Bussen", sagt er. "Da musste dem Senat auf die Sprünge geholfen werden." Allerdings mag er den Begriff der Gentrifizierung nicht sonderlich: "Das hat einen negativen Beigeschmack, denn Bevölkerungsaustausch findet immer statt." Sichtbarer werde er dort, wo lange nichts passiert sei - in Hamburg-Sankt Pauli ebenso wie am Prenzlauer Berg in Berlin. "Ofenheizung und nasse Wände sind kein gesellschaftlicher Fortschritt", sagt Aust. "Man muss gleichwohl mit Augenmaß abwägen, was sinnvoll ist, und das schon bei der Planung und nicht erst beim Bau."

Beim Schlendern durch Sankt Pauli fällt die spannende Mischung auf: Boutiquen und Galerien verstecken sich nahe dem Restaurant Freudenhaus-Bar und dem Waschsalon Sankt Pauli, ein Stück weiter ein Plattenladen, der ausschließlich Titel verkauft, die mit Hamburg zu tun haben. Vor Ecklokalen sitzen Studenten unter Bäumen beim Snack. Der "Old Sailor" hat die Flasche Wodka um 20 Euro im Angebot. Just im Gebüsch gegenüber der berühmten Polizeistation Davidwache stinkt es besonders scharf nach Urin.

Nahe der Gaststätte "zum Rettungsring" und einem Tattoo-Shop hocken Männer mit einer Flasche in der Hand und leerem Blick auf den Eingangsstufen zu einem Lokal. Eine Kneipe weist auf das Glasflaschenverbot hin. Ein Metalltor gewährt nur Männern Eintritt in die Herbertstraße: Am Vormittag ist die Bordellstraße mit dem runden Dutzend Häusern rechts und links nahezu ausgestorben. Nur ein paar Veteraninnen des Gewerbes sitzen hinter ebenerdigen Auslagenscheiben und drehen sich gelangweilt auf Friseurstühlen.

Ein paar Häuser weiter liegen das Sankt Pauli-Museum und das Hafenbasar-Museum. Das Beatles- Museum musste wieder schließen. Dabei sind die Musiker aus Liverpool ganz besonders mit Hamburg verbunden. Hier begannen sie 1960 zu musizieren, auf Sankt Pauli fing ihre weltweite Karriere an.

Die Musikerin Stefanie Hempel bietet Beatles-Touren auf den Spuren der Künstler an. Abends zieht sie bei ihren Führungen mit einer Jukulele durch den Stadtteil und singt an historischen Orten den einen oder anderen Beatles-Song. Etwa vor der Großen Freiheit Nummer 36, dem ehemaligen Kaiserkeller. Ein altes Plakat kündet noch von den Auftritten. 800 waren es in den Jahren 1960 bis 1962, im "Top Ten" hatten die Beatles 98 Nächte in Folge aufzutreten, meist spielten sie von 19 Uhr bis fünf oder sechs Uhr morgens. Dann fielen sie in ihrer Unterkunft über dem einstigen Bambi-Kino ins Bett, wo mittags die Kindervorstellungen begannen. "The black hole of Calcutta" nannten die Musiker ihr Quartier in einer stillen Seitenstraße, das weder Fenster noch Heizung aufwies. In Sankt Pauli traten die Beatles in Lederanzügen und mit Cowboystiefeln auf, hier erfanden sie die Pilzfrisur für sich.

Eventisierung

Die Musikszene ist geblieben, zahlreiche Clubs haben sich hier etabliert. "Für die Popszene ist Sankt Pauli ein Hotspot", sagt Stadtführer Tomas. Dennoch: "Das Establishment kommt". Am Beginn der Reeperbahn hat Hamburgs Stararchitekt Hadi Teherani mit den zwei tanzenden Türmen ein neues Wahrzeichen geschaffen, die neue Deutschlandzentrale der Strabag. Am anderen Ende des Viertels konnte ein schickes Hotel nur gegen massiven Widerstand gebaut werden. Doch es gibt Auflagen der Stadtverwaltung: Kein Sexshop, keine Spielhalle, kein Supermarkt - nur Unternehmen, die zu Sankt Pauli passen, dürfen sich ansiedeln.

Derzeit wird insbesondere um den Verbleib einiger unansehnlicher Nachkriegsbauten an der Reeperbahn samt einer Esso-Tankstelle gestritten, die Kultstatus erlangt hat, aber "wesensfremd" für die Gegend sei, wie Professor Aust einwirft. Die Alteingesessenen von Sankt Pauli wehren sich gegen die "Eventisierung" des Viertels mit der höchsten Arbeitslosigkeit und dem höchsten Ausländeranteil von Hamburg.

Das im Krieg kaum zerstörte Sankt Pauli ist attraktiv geworden, die Preise für Wohnraum explodieren. Die Betuchteren fühlen sich angezogen von der pittoresken Stadtteilkultur, ohne zu bemerken, dass ihre geballte Präsenz gerade das zerstören könnte, dessen Teil sie gerne werden möchten, dass Sankt Pauli so klinisch sauber wie Berlins Prenzlauer Berg werden könnte. Für manchen Neuzugang mögen die Zeilen des Hans-Albers-Lieds gelten: Er "ist ein armer Wicht, denn er kennt dich nicht, mein St.Pauli, St.Pauli (nicht nur) bei Nacht".

Stefan May, geb. 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien und schreibt regelmäßig Reportagen fürs "extra".