Die von Viren verursachte Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) ist zwar die gefährlichste, aber - aufgrund einer Durchimpfungsrate von 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung - seltenste unter den Erkrankungen, die von Zecken übertragen werden. Die Spitzenposition nimmt die Lyme-Borreliose ein - in Europa mit bis zu 300 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr -, zunehmend gefolgt von der Ehrlichiose. Eine Impfung gegen diese Bakterienkrankheiten, die sich in den verschiedensten Formen und Organen manifestieren können, gibt es noch nicht. Aber es gibt neue, hoch interessante Erkenntnisse zum Verständnis ihrer Verläufe durch ein Grazer Forschungsteam unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Robert Müllegger - und damit auch zu ihrer wesentlich besseren Handhabung.
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Erythema migrans, Borrelienlymphozytom, Acrodermatitis chronica atrophicans, Hirnnervenlähmungen, Schädigung peripherer Nerven, (chronische) Arthritis und Karditis (Gelenks- bzw. Herzentzündung): Von der sogenannten "Wanderröte" auf der Haut bis zu weit weniger harmlosen Erkrankungen des Nervensystems, der Skelettmuskulatur, der Gelenke und des Herzens reicht das Spektrum der Lyme-Borreliose, je nach Lebensalter der Betroffenen. - Doch kann ein einzelner Erreger wie Borrelia burgdorferi wirklich alles das verursachen?
Dieser Frage ging das Team um Müllegger von der Universitätsklinik für Dermatologie an der Med-Uni Graz, das tagtäglich damit konfrontiert ist - findet sich doch in der Steiermark Österreichs größtes Zecken-endemisches Gebiet -, zunächst praktisch nach. Das heißt, dass sich Dr. Martin Glatz in den Sommern 2002/03 mit einer Filzdecke im Wäldchen nahe der Klinik wiederholt auf Zeckenfang begab - und mit weit mehr als 500 Ixodes ricinus-Exemplaren zurück kehrte. 26 Prozent von ihnen waren, wie sich zeigte, mit Borrelien behaftet, zehn Prozent mit Ehrlichien.
Aus diesem Material gewann das Team erste Aufschlüsse über die genetischen Merkmale der Bakterien - es fand alle drei der potenziell krankheitserregenden Bb-Subtypen, nämlich B. garinii, B. afzelii und Bb sensu stricto, aber auch einen vierten, Valaisiana, von dem überhaupt nur bekannt war, dass es ihn in Europa gibt. Möglich wurde dies dadurch, dass Müllegger und Mitarbeiter das DNA-Material mit der PCR-Methode und anschließenden Subanalysen untersuchen konnten.
Doch dies war nur der erste Schritt, durch den Müllegger nachweisen konnte, dass es bei der Krankheitsentstehung primär auf den Subtypus ankommt. Wie sich zeigte, betrifft B. afzelii die Haut (Erythem und ACA), während B. garinii die neurologischen Erkrankungen auslöst und B. b. sensu stricto für die Arthrididen verantwortlich ist.
Müllegger mochte sich indessen damit nicht zufrieden geben, zu viele Fragen waren noch unbeantwortet: "Warum verlaufen die einzelnen Krankheiten so unterschiedlich, könnte es nicht theoretisch sein, dass es andere beeinflussende Faktoren gibt?"
Die Forscher begannen daraufhin mit weiteren methodischen Untersuchungen, etwa im Hinblick auf Co-Infektionen von Borrelien und Ehrlichien. Und tatsächlich: Als Dr. Andrea Rieger 300 Patienten mit frischem Erythema migrans untersuchte, konnte sie bei 26 Prozent von ihnen eine Antikörperbildung gegen Ehrlichien serologisch nachweisen. Tatsächlich litten alle signifikant häufiger unter den heftigen, grippeähnlichen Symptomen, die für Ehrlichien-Infektionen charakteristisch sind, als Patienten mit alleiniger Borreliose.
Für die Behandlungspraxis ist dies von großer Bedeutung. Zwar sind beide Erreger direkt nur durch aufwändige Labordiagnostik nachweisbar, wie sie nur selten vorhanden ist, aber es gibt hoch wirksame Antibiotika gegen sie. Das heißt, dass Ärzte bereits im bloßen Verdachtsfall sofort eine effiziente Therapie einleiten und damit auch die Spätfolgen verhindern können.
Und noch etwas konnte geklärt werden, nämlich warum die ACA, von der überwiegend die ältere ländliche Bevölkerung betroffen ist, an den Streckseiten von Armen und Beinen auftritt: Dort ist die Haut auch am meisten der Sonne ausgesetzt.
Der "menschliche Faktor"
Blieb schließlich noch der "menschliche Faktor", nämlich das Immunsystem. Dieses verfügt u. a. über bestimmte Botenstoffe - Zytokine und Chemokine -, die von verschiedenen Zellen in der Haut, im Bindegewebe etc. produziert werden und die im Normalfall feinst ausbalanciert sind, es sei denn, es kommt zu einer Verletzung: Dann werden sie als Immunantwort verstärkt produziert und beeinflussen enorm viel an der lokalen Abwehr.
Mit fast 200 Hautproben sämtlicher Manifestationen von Hautborreliose begab sich Müllegger deshalb wiederholt zu Prof. Dr. Allen C. Steere in Speziallabors in Boston, USA - ein glücklicher Kontakt, den Müllegger seinen Studien als Postdoc an der Tufts University School of Medicine in den Jahren 1997 und 1998 verdankt - und von der Dermatologie in die Zytokinforschung. Konstruierte dort spezielle Sonden zum Aufspüren von Zytokin-"Schlössern" im Rahmen der in situ-Hybridisierung und der quantitativen PCR-Methode und fand - Lohn der unendlichen Mühe - völlig unterschiedliche Muster an Zytokinen wie etwa Interleukin und Interferon in den Proben. Das wirft neue Fragen auf wie jene, warum etwa ein Mensch Interferon bildet, der andere hingegen nicht. Ihre Beantwortung ist das nächste Ziel Mülleggers und seiner Forscherkollegen.