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Der Historiker Michael Mitterauer hat sich mit unserem Kontinent intensiv beschäftigt. Sein Europabegriff deckt sich nicht mit den geografischen Umrissen, sondern umfasst den Kulturraum.
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Wiener Zeitung:Immer mehr Menschen wenden sich frustriert von Europa ab, Sie aber sind von diesem Kontinent fasziniert, haben ihm praktisch Ihr Berufsleben gewidmet. Was begeistert Sie so an Europa?Michael Mitterauer: Verzeihen Sie, hier muss ich zunächst eine Unterscheidung einbringen. Es ist leider eine Tatsache, dass man oft von der Europäischen Union spricht, aber den Kontinent Europa, wie wir ihn aus unseren Schulatlanten kennen, im Hinterkopf hat. Und Europa als gewachsener Kulturraum ist wieder etwas anderes. Das schafft viele Missverständnisse. Der Kontinent ist nicht identisch mit dem historischen Kulturraum und auch die europäischen Institutionen der Gegenwart sind sehr unterschiedlich. Das Europa des Europarates ist ein anderes als jenes des Songcontests oder des Gewerkschaftsbundes. Europa als Kontinent ist als Grenze für die EU zu vergessen, der europäische Kulturraum reicht einerseits - etwa durch seine Tochterkulturen - weit darüber hinaus, andererseits ist seine historische Kernzone viel enger. Der Ural ist als kulturelle Grenze bedeutungslos, der Kulturraum reicht nicht bis zum Ural. Dagegen ist Neuseeland europäischer als Albanien - und dennoch wird Albanien früher oder später Teil der EU sein.
Und wie ist das jetzt mit Ihrer Begeisterung?
Für mich ist Europa eine lebensgeschichtliche Faszination. Ich bin 1937 geboren, für mich war das immer ein Friedensprojekt - nur, diese begeisternde Idee der 50er Jahre ist nicht die heutige EU. Die Hoffnung von vielen meiner Generation scheint in der Bürokratiemaschinerie in Brüssel erstickt worden zu sein. Ich verstehe auch, dass die heutigen Jungen enttäuscht sind, wenn die EU sie mit einer Verordnung über die Bananenkrümmung belästigt oder den Alpen-Transit vermehrt.
Was bedeutet diese Ernüchterung einer ganzen Generation für die Erfolgschancen des europäischen Integrationsprojekts?
Ich glaube schon, dass dieses Projekt gelingen kann, aber auf einer anderen Ebene. Damals ging es um den Frieden in Europa. Eine Union, die den Frieden in die Welt hinaustragen will, wird die Menschen sicherlich wieder überzeugen können. Auch was die Verringerung der Gegensätze zwischen Arm und Reich in der Welt angeht. Hier könnte die EU durchaus etwas bewegen - aber macht sie dies auch tatsächlich? Ein Europa, das - gestützt auf moralische Stärke - international Stellung bezieht, wird wieder Begeisterung auslösen können, davon bin ich überzeugt.
Dazu müssten jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein - wirtschaftlich und militärisch.
Ja, das stimmt sicher. Dabei werden auch Differenzen mit den USA unvermeidlich sein. Das hat sich ja auch in der jüngeren Vergangenheit bereits gezeigt. Ich finde es interessant, wie der Begriff des "Westens", der einst als Synonym für die Einheit der Vereinigten Staaten und Europas diente, heute kaum mehr vorkommt. Gerade der Irak-Krieg hat dazu geführt, dass man sich in Europa stärker auf eigene Werte besinnt. Da geht es nicht um Antiamerikanismus, sondern um die eigenständige Weiterentwicklung positiver Traditionen. Die österreichische Präsidentschaft war für mich hier glaubwürdig.
Die Begeisterung für eine globale Rolle der EU scheint sich aber zumindest in weiten Teilen der Bevölkerung in engen Grenzen zu halten.
Da wirkt sicher die Geschichte nach - Erfahrungen ehemaliger Kolonialstaaten, Abhängigkeiten aus der Zeit des Kalten Krieges. Es war ja auch ganz bequem, von den USA beschützt zu werden. Da ließ sich leicht eine Mentalität der Waffenlosigkeit, der Nichtintervention pflegen. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, eine gemeinsame europäische Außenaktivität zu entwickeln. Wobei für mich eine militärische Rolle keinesfalls vorrangig ist. Das Wichtigste ist sicher, bedrohlichen Entwicklungen des Weltwirtschaftssystems entgegen zu steuern. Mir geht es darum, dass Europa seine Tradition des Sozialstaates stärker einbringen kann.
Mit welchen Instrumenten ließe sich ein Export dieser europäischen sozialen Werte bewerkstelligen?
Der Sozialstaat in seiner historisch gewachsenen Form ist so sicher nicht zu exportieren. Aber man müsste seine Grundprinzipien weiter denken und ihre Verwirklichung möglich machen. Es besteht die Gefahr, zu sehr in Interessen zu denken - auch in Österreich. Ich bedauere, dass Wien sich nicht wirklich zu einem Zentrum der UNO entwickeln konnte, obwohl es doch eigentlich neben New York und Genf die dritte UNO-Stadt ist. Natürlich weiß ich, dass ein kleines Land es allein nicht schaffen kann, diese Fragen in der Weltgemeinschaft aufzuwerfen. Es mag vielleicht ein wenig realitätsfremd sein, aber meine Hoffnungen zur Verbesserung der Weltsituation ruhen auf der UNO, nicht der EU. Wir sprechen zu viel über Brüssel und zu wenig über die UNO. Ich erinnere an die Visionen der 70er Jahre, dass man als kleines, neutrales Land sehr wohl Einfluss ausüben könnte - etwa beim Nord-Süd-Dialog.
Wir möchten gerne die Perspektive wechseln, weg von der Zukunft hin zu Ihrem eigenen Metier, der Vergangenheit. Zu den Pfeilern der modernen europäischen Identität gehört die Emanzipation der Frau. Dabei ziehen sich patriarchalische Strukturen wie ein roter Faden durch die Geschichte. An welcher Weggabelung entschied sich Europa für den Weg der Gleichberechtigung der Geschlechter?Das lässt sich nicht auf eine Weggabelung reduzieren, dazu muss man sehr weit ausholen, bis zurück in die Antike. Das Christentum wird diesbezüglich in seiner Bedeutung oft unterschätzt: Die Formulierung "Brüder und Schwestern", nicht nur "Brüder", kommt zum ersten Mal in christlichem Milieu vor. "Bruderschaften" gab es auch schon vorher in der Antike. Ein anderes Beispiel ist die Konsensehe - bei der sowohl Mann als auch Frau zustimmen müssen -, die ein Postulat des Christentums war. Da wären vielfältige Entwicklungsschritte zu nennen. Emanzipation ist aber kein rein europäisches Phänomen, andere Kulturkreise wie etwa der Buddhismus haben hier ihre eigenen Modelle entwickelt. Umgekehrt darf man die von den Familien arrangierten Ehen, wie sie sich in manchen islamischen Kulturen halten, nicht nur von der Religion ableiten - das hat oft viel mit tiefer liegenden kulturellen und ökonomischen Traditionen zu tun, die schon lange vor dem Islam existierten. Man muss etwa auch sehen, dass Mohammed durch die erbrechtlichen Regelungen der Töchter zu einer Besserstellung von Frauen beigetragen hat. Das Ganze ist nun einmal sehr komplex.
In Ihrem Buch "Warum Europa" führen Sie die Entstehung eines europäischen Kulturraumes auf Entwicklungsprozesse im frühen Mittelalter zurück. Eine Ehrenrettung dieser oft als finster bezeichneten Epoche - immerhin betonen Politiker immer gerne die griechische Antike als Wiege der europäischen Kultur?
Zumindest unter Historikern ist heute längst unumstritten, dass der Kulturraum Europa seine entscheidende Prägung im frühen Mittelalter erhalten hat. Natürlich spielen auch antike Traditionen eine große Rolle. Aber die Linie von den alten Kulturen im Orient, über Griechenland und Rom bis hinein in unsere Gegenwart ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein heilsgeschichtlicher Mythos, den unsere Schulbücher brav weiter fortschreiben. Unser Geschichtsunterricht ist eine Mythologie, eigentlich eine Heilsgeschichte; Gott habe die Herrschaft einer bestimmten Abfolge von Reichen anvertraut. Und Ähnliches gilt für unser Epochenschema. Was war denn in der Neuzeit neu? Gar nichts! Und was war im Mittelalter finster? Genauso nichts. Wir sollten langsam wegkommen von dieser Art von Geschichtsunterricht.
Worum es mir geht, ist die Frage zu beantworten, warum plötzlich nicht mehr der Mittelmeerraum, sondern diese raue, barbarische Region im Nordwesten des Kontinents zwischen Rhein und Seine zum neuen Zentrum wurde. Rom war plötzlich auf dem Abstellgleis. Für diese Entwicklung habe ich eine - wenn man so will - historisch-materialistische Erklärung gefunden: Es ist im Frühmittelalter gelungen, den Norden durch neue Getreidesorten wie Roggen, Hafer und Dinkel fruchtbar zu machen. Hinzu kam die Entwicklung der Wassermühle, die in ganz neuer Weise Energieeinsatz ermöglichte. Damit wurden überhaupt erst die Voraussetzungen für die Industrialisierung geschaffen. Es ist kein Zufall, dass Fabrik auf Englisch "mill", also Mühle heißt. Und dort, wo etwa wie in Holland die Nutzung der Wasserkraft aus topografischen Gründen nicht möglich war, entwickelte man die Windmühle.
Diese technologische Entwicklung ging in Nordwesteuropa weiter, während der Mittelmeerraum, vor allem der islamische Raum, zurückfiel. Das Kamel, das als Verkehrsmittel einst Andalusien mit Ostasien verbunden hatte, war spätestens im Eisenbahnzeitalter nicht mehr konkurrenzfähig. Die Grundlagen der Industrialisierung wurden im Mittelalter gelegt. Und auch die Wurzeln des Kolonialismus liegen schon im 11. Jahrhundert - das übersieht man leicht, wenn man die Neuzeit mit 1492 beginnen lässt.
Warum hat China seinen technologischen Vorsprung vor Europa nicht halten können?
Wir wissen bis heute nicht, warum China seine Seefahrt eingestellt hat. Es war sich vielleicht selbst genug. Die Europäer sind dagegen in die Welt hinausgefahren, zuerst wegen Gewürzen und Gold, später wegen Rohstoffen und Sklaven. Europa hat vor allem durch seinen Kolonialismus viel Übel in die Welt gebracht, das bis heute fortwirkt - zum Teil auch mit Billigung der christlichen Kirchen.
Europa hat sich selbst - im Guten wie im Schlechten - die Grenzenlosigkeit verordnet. Im technischen und biotechnologischen Bereich ist vieles möglich geworden, dessen Folgen sich kaum absehen lassen. Auf der Suche nach neuen Grenzen importiert Europa Philosophien aus anderen Kulturräumen. Zen, Yoga, Feng-Shui sind dafür nur einige Beispiele. Ist der Geist des Rationalismus, der die Triebfeder der technologischen Entwicklung ist, vielleicht zu sehr betont worden?
Zweifellos hat sich das Tempo der technologischen Entwicklung ungeheuer beschleunigt und der Wandel des Bewusstseins kommt dem Wandel der Technik schwer nach. Für eine 90-jährige Frau vom Land ist es schwierig geworden zu verstehen, was ihr 20-jähriger Enkel denkt. Der menschliche Geist ist - kollektiv und individuell - nicht unbeschränkt wandlungsfähig. Dieser "cultural lag" kann nicht ohne Weiteres aufgelöst werden.
Richtig ist sicher auch, dass Europa dem Geist, der Vernunft, einen zentralen Platz in seiner Kultur einräumt. Mit dem Christentum hat das aber nur bedingt etwas zu tun. Auch in Europa gibt es durchaus alternative Spiritualität. Ich fahre demnächst für einige Tage auf den Berg Athos - ein spirituelles Zentrum von besonderer Ausstrahlungskraft. Aber man muss sich auch klar darüber sein, in welchem Kontext diese Spiritualität dort überlebt hat. Wir können Europa nicht in einen einzigen Berg Athos verwandeln, schon allein wegen der dort herrschenden Frauendiskriminierung. Es gibt keine Alternative zur bisherigen Weiterentwicklung der Technik. Aber der zunehmende Bedarf an Spiritualität kann im Zeitalter der Globalisierung auch durch zunehmende Formen der Kulturbegegnung erfüllt werden.
Die EU hat sich erst vor zwei Jahren um zehn neue Mitglieder erweitert, kommendes Jahr werden Bulgarien und Rumänien dazukommen. Mit Kroatien, ja sogar der Türkei wird verhandelt. Welche Form der Union werden wir in Zukunft erleben?
Wenn man die EU und den europäischen Kulturraum übereinander legt, werden wir das Problem erkennen, dass die Union zwar der Grenzen bedarf, aber sicher nicht alle Regionen erfassen kann, die von europäischer Kultur beeinflusst sind. Ich persönlich habe nicht erwartet, dass die EU so viele osteuropäische Staaten integrieren wird. Meine positive Haltung gegenüber der EU hat sich durch diese Erweiterung erheblich gesteigert. Die Integration des Balkans halte ich ebenfalls für richtig und wichtig. Aber die Ausdehnung muss zweifellos Grenzen haben: Bulgarien, Rumänien ja, auch der westliche Balkan inklusive Serbien und Albanien, wobei dies historisch betrachtet die am wenigsten europäische Region des Kontinents ist.
Bei der Ukraine muss man abwarten, skeptisch bin ich, was die Türkei angeht. Aus heutiger Sicht kann ich mir eine EU-Integration dieses Landes nicht vorstellen. Die Voraussetzungen lassen sich nicht mit ein paar neuen Gesetzen in Ankara schaffen. Die historisch-kulturellen Unterschiede gehen tiefer - und das hat nicht nur mit dem Islam zu tun. Der vielzitierte Ehrenmord etwa lässt sich nicht aus religiöser Wurzel erklären. Er mag vielleicht vierzig, fünfzig Mal im Jahr vorkommen, das ist schlimm genug, aber insgesamt ist er nur ein Teilaspekt - Teilaspekt einer Kultur, die stärker an Gruppen-Identitäten als an individuellen Identitäten orientiert ist. Das sitzt sehr tief. Starke Gruppen-Identitäten mögen gegenüber dem Individualismus europäischer Prägung auch viele Vorteile haben, aber sie schaffen doch tiefgreifende Unterschiede. Meiner Meinung nach werden manche solcher historisch weit zurückreichender gesellschaftlicher Unterschiede zu wenig bedacht. Dazu gehört etwa auch die Jahrhunderte lange Verzögerung der Übernahme des Buchdrucks im Osmanischen Reich. Bücher lesen hat viel mit Individualisierung zu tun. Für die Sonderentwicklung des europäischen Kulturraums war dieser Faktor von sehr hoher Bedeutung. Wo nicht gelesen wird, gibt es Defizite.
Zur Person
Michael Mitterauer, geboren 1937 in Wien, studierte an der Universität Wien Geschichte und Kulturgeschichte. 1960 promovierte er "Sub Auspiciis" in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Adolf Schärf zum Dr. phil., 1968 folgte die Habilitation für das Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte und 1973 schließlich die Ernennung zum ordentlichen Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. 1993 war Mitterauer Mitbegründer des Instituts für Österreichische Familienforschung. 2003 erfolgte seine Emeritierung.
Mitterauers Forschungsschwerpunkte sind die historische Familienforschung, Alltagsgeschichte der "einfachen Leute" - dazu hat er 1983 die Buchreihe "Damit es nicht verloren geht ..." gestartet -, und kreisen um die Themen Jugend, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, mittelalterliche Markt- und Stadtgeschichte sowie Geschichte der Land- und Reichsstände.
Als erster Österreicher erhielt Mitterauer im November 2004 den mit 30.000 Euro dotierten Preis des Historischen Kollegs als Auszeichnung für sein Buch "Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs" (Verlag Beck, München 2003) sowie für sein Lebenswerk aus den Händen des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler. Darin befasst sich Mitterauer mit den bis in das Frühmittelalter zurückführenden Besonderheiten Europas, die er in einem interkulturellen Vergleich den Entwicklungen im islamischen und chinesischen Raum gegenüberstellt.
In sieben Kapiteln wird darin die Erfolgsgeschichte Europas an Hand von Ackerbau, Herrschaftsordnungen, Religion, Kommunikationsformen, Familien- und Verwandtschaftssystemen aufgearbeitet. Für Europa bedeutete beispielsweise die frühmittelalterliche Agrarwende hin zu Roggen und Hafer eine wesentliche wirtschaftliche Grundlage seines Aufstiegs, ein gut entwickeltes Mühlenwesen war eine wichtige Basis für die Industrialisierung.