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Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff warnt die Eltern: Kinder werden immer häufiger zu Partnern gemacht - das scheint liberal und tolerant zu sein, birgt jedoch die Gefahr, dass die Kinder dadurch überfordert werden.
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"Wiener Zeitung:" Jede Generation behauptet, früher seien die Kinder braver und klüger gewesen. Steht es denn heute wirklich so schlecht um die Jungen?
Michael Winterhoff: Ich arbeite seit 1988 als Kinderpsychiater. In den letzten 15 Jahren habe ich beobachtet, dass sich das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in meiner Praxis gravierend verändert hat. Während es früher vielleicht zwei, drei auffällige Kinder pro Schulklasse gab, so sind es inzwischen oft dreimal so viel. Meistens haben diese Kinder die gleiche Störung. Es sind Narzissten mit dem Entwicklungsstand eines Eineinhalbjährigen. In diesem Entwicklungsstadium reagiert das Kind in erster Linie lustorientiert und steuert damit sein Umfeld. Ein jugendlicher Erwachsener mit einer derartigen Psyche ist nicht in der Lage, sich in den Arbeitsalltag zu integrieren. Das ist alarmierend, wenn man bedenkt, dass diese Generation einmal das Ruder übernehmen soll.
Wie drückt sich dieser Narzissmus aus?
Ein typisches Merkmal ist, dass sich diese Kinder und Jugendlichen nicht auf mich als Gegenüber einstellen können. Das beginnt schon, wenn ich das Wartezimmer betrete: Der zehnjährige Patient lümmelt am Boden und reagiert nicht auf meine Begrüßung. Im Praxiszimmer setzt er sich bewusst auf den Stuhl rechts von meinem Schreibtisch, wenn ich ihm den linken anbiete, und wirkt wie behindert. Von Lehrern höre ich, dass er ihre Arbeitsanweisungen nicht ausführt.
Das klingt nach Trotzverhalten.
Aber doch nicht in diesem Alter! Dieses Verhalten ist nicht mal mit drei Jahren in Ordnung. Ab diesem Alter sollte ein Kind normalerweise in der Lage sein, den anderen zu erkennen. Es verliert allmählich das kleinkindliche Weltbild, demzufolge es nur mich gibt und ich alles bestimmen kann. Das Kind grüßt zusammen mit den Eltern und führt die Anordnungen eines übergeordneten Erwachsenen aus. Und beginnt damit, bestimmte Arbeiten zu erledigen, wie das Tischdecken, später dann Hausaufgabenmachen.
Also hapert es bei der Erziehung?
Es handelt sich hierbei eben nicht um fehlende Erziehung, auch wenn dies so aussehen mag. Das Entscheidende ist, dass diese Kinder psychisch nicht entwickelt sind - trotz Erziehung. Ich behaupte, dass die neurobiologische Entwicklung bei ihnen nicht stattfindet. Erst die aber lässt den Menschen zu einem alltagstüchtigen, das heißt frustrationstoleranten, sozialkompetenten Erwachsenen heranreifen.
Sie fokussieren ein Idealbild des angepassten Menschen, der seine Emotionen im Griff hat und bei der Arbeit funktioniert. Bleibt dabei nicht die Individualität auf der Strecke?
Anpassung und Individualität schließen einander nicht aus. Aber die Individualität kann sich erst ab einem bestimmten Entwicklungsstand entfalten. Ein dreijähriges Kind hat noch keine Persönlichkeit. Es kann erst unter richtiger Führung eine entwickeln. Es kann noch nicht entscheiden, ob es spielen oder basteln will. Die Eltern oder Bezugspersonen müssen diese Entscheidung treffen. Deshalb sind Montessori-Schulen und solche mit individuellem Förderansatz nur geeignet für Kinder, die Regeln verinnerlicht haben. Für narzisstische Kinder sind sie eine totale Überforderung.
Was ist der Grund für die fehlende Reifeentwicklung bei vielen Kindern?
Der Schlüssel zum Problem ist, dass viele Erwachsene unbewusst Beziehungsstörungen zu ihren Kindern aufbauen. Sie nehmen ihr Kind nicht mehr als Kind wahr, und das führt dazu, dass es in die Rolle des Erwachsenen schlüpft. Das ist etwa der Fall, wenn ein achtjähriges Kind über die Farbe des neuen Sofas bestimmt oder den Urlaubsort auswählt. Im schlimmsten Fall gehen die Eltern mit ihren Kindern eine Symbiose ein - sie verschmelzen mit ihnen. Sie nehmen ihr Kind nicht mehr als etwas Fremdes wahr. Das Kind ist wie ein weiterer Arm der Mutter oder des Vaters, die es nicht als störend empfinden, wenn ihr Fünfjähriger Stühle umwirft, während man sich mit ihnen unterhält. Die Kinder werden von Erwachsenen unbewusst zu Partnern gemacht. Anstatt das Kind zu führen, lassen sie sich von ihm steuern.
Sie sind also für mehr Autorität. Das löst bei vielen 68ern, die sich als Opfer eines diktatorischen Erziehungsstils empfinden, vermutlich Unbehagen aus. Gibt es einen Mittelweg?
Elternschaft hat sich historisch verändert. Die Folge des diktatorischen Erziehungsstils waren unter anderem devote Persönlichkeiten oder, im anderen Extremfall, radikale. Aber zwischen 1970 und 1990 gab es in der Mittelschicht ein förderliches Familienmodell. Die Kleinkinder wurden angeleitet, den Jugendlichen wurde dann mehr Verantwortung übertragen - das war ein Weg von Hierarchie zu Partnerschaft. Mit dem zunehmenden Wohlstand ist die Situation leider gekippt. Das Kind soll heute alles haben dürfen - und zwar sofort.
Was hat der Wohlstand damit zu tun?
So viel Wohlstand und Wahlmöglichkeiten und gleichzeitig so viele Negativprognosen in Sachen Umwelt, Arbeit und Sicherheit wie es derzeit gibt, hält kein Mensch aus. Viele Eltern sind verunsichert angesichts einer Gesellschaft, die immer weniger Orientierung und Sicherheit bietet. Die Anforderungen an den Einzelnen werden immer komplexer. Das beginnt schon bei der Wahl des richtigen Telefonanbieters und geht im Berufsleben weiter. Viele Erwachsene kompensieren solche Orientierungslosigkeit unbewusst mithilfe ihrer Kinder. Das kindliche Glück soll dem Leben Sinn verleihen und scheint vielen die einzige Zukunftsperspektive. Und diese Projektion kehrt die Machtverhältnisse innerhalb der Familie um. Eltern tun alles, um von ihren Kindern geliebt zur werden. Sie wollen von ihnen dafür gelobt werden, dass sie hart arbeiten, um dem Kind das teuerste Spielzeug kaufen zu können. Kinder werden in die Elternrolle gedrängt.
Sie haben selbst zwei Kinder. Können Sie sich abgrenzen, wenn Ihre Kinder sich weigern oder frech sind?
Ich grenze mich als Elternteil nicht ab, sondern bin natürlich abgegrenzt. Abgrenzung ist in diesem Fall kein aktiver Vorgang. Wenn ich als Elternteil in mir ruhe, reagiere ich aus der Intuition. Sicher haben sich auch meine Kinder im Kleinkindalter manchmal geweigert, sich anzuziehen. Ich habe dann den Raum verlassen und als ich wieder kam, waren sie angezogen, oder bereit, sich anziehen zu lassen.
Ihrer Meinung nach reagieren immer mehr Eltern und Erwachsene nicht mehr mit einer natürlichen Intuition gegenüber ihren Kindern. Handelt es sich bei den Beziehungsstörungen also um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen?
Ja. Früher hatte ich bloß Einzelfälle mit solchen Symptomen, die auf psychische Probleme der Eltern zurückzuführen waren. Inzwischen betrifft das Phänomen gesunde Eltern aus der Mittel- und Oberschicht, ebenso wie Lehrer und Erzieher.
Wie sieht es in den Kindergärten und Schulen aus?
Die Kindergärten haben "Neigungsgruppen", das heißt offen Strukturen, in denen Kinder frei wählen können, in welcher Gruppe sie arbeiten wollen. Dadurch verändern sich Raum, Gruppe und Bezugspersonen ständig, was für Kinder in diesem Alter eine Überforderung darstellt. Auch die Unterrichtsformen an den Schulen haben sich total verändert. Es gibt Gruppentische mit wechselnden Betreuungspersonen. Im Vordergrund steht Freiarbeit, in der jedes Kind nach seinem Lerntempo arbeiten kann, aber häufig nicht muss. Vielerorts sind Hausaufgabenkontrolle und Notengebung weggefallen. Es werden partnerschaftliche Lernkonzepte praktiziert. Die Kinder versorgen sich beim sogenannten Buffetunterricht mit Lernmaterialien und sollen auf diese Weise zu selbständigem Arbeiten angeregt werden. Aber Kinder in diesem Alter lernen personenbezogen, für eine Lehrperson, und sie brauchen deren Anleitung. Dieser Gehorsam hat nichts mit Drill zu tun, sondern ist das natürliche Verhalten von Heranwachsenden gegenüber einer Leitfigur.
Dann betrachten Sie diese pädagogischen Reformen im Kindergarten und in der Grundschule als kontraproduktiv?
Ja, denn selbständiges Arbeiten kommt in der Entwicklung erst viel später. Die heutige Unterrichtsform widerspricht neurologischen Erkenntnissen. Auch die fehlenden schulischen Leistungen vieler Kinder spiegeln das wider. Deshalb musste man die Erwartungen senken. In Nordrhein-Westfalen musste ein Grundschüler früher 4000 Wörter schreiben können, heute sind es nur 1000. Ein weiteres Symptom der fehlenden Reife ist die zunehmende Suchtgefahr im Jugendalter. Ein vor allem lustorientierter Mensch kann solch kurzzeitiger Befriedigung kaum widerstehen.
Was kann verändert werden?
Leider hat man Freud und Co. in die Mottenkiste gepackt. Sein Phasenkonzept ist aber nach wie vor richtig. Auch Anna Freud hat den frühkindlichen Narzissmus als Durchgangsphase eindrücklich beschrieben. Inzwischen herrscht leider die weitverbreitete Meinung, dass sich die menschliche Psyche quasi von allein entwickle. Aber die positiven psychischen Funktionen bilden sich erst im Lauf der Kindheit aus und zwar vor allem dadurch, dass die kindliche Psyche ein erwachsenes Gegenüber als Begrenzung der eigenen Individualität wahrnimmt. Das geschieht vor allem dadurch, dass ein Kind ab dem zweiten Lebensjahr nicht immer alles sofort bekommt, sondern auch mal warten muss. Nur so entwickelt sich eine Frustrationstoleranz. Die kindliche Psyche muss gebildet werden.
Und wie wird die kindliche Psyche gebildet?
Psychische Funktionen wie Arbeitshaltung oder Frustrationstoleranz werden, wie zum Beispiel das Lesen und Rechnen, von Nervenzellen ausgeführt. Wird eine Nervenzelle durch einen bestimmten Reiz aktiviert, dann übernimmt sie ab diesem Zeitpunkt eine bestimmte Aufgabe. Je mehr die Nervenzelle trainiert wird, desto besser automatisieren sich die Abläufe, die die Zelle zu leisten hat. Wenn Sie Ihrem Kind etwa regelmäßig sagen, dass es sich die Zähne putzen muss, wird es das irgendwann selbständig tun. Das gilt auch für andere Prozesse, wie für die Körperhygiene insgesamt.
Woher wissen Eltern, was sie ihren Kindern zumuten können?
Wenn Eltern Kinder als Kinder ansehen, handeln sie intuitiv. Dann versteht es sich von selbst, dass psychische Funktionen eingeübt werden müssen, vergleichbar dem Lesen, Schreiben, Rechnen. Solche Trainingsprozesse sind oft sehr langwierig. Nehmen Sie zum Beispiel die Arbeitshaltung: Eltern leiten ihre Kinder ab dem ersten Grundschuljahr zu den Hausarbeiten an und kontrollieren, ob diese vollständig gemacht sind. Eine derartige Begleitung ist bis zum 14. Lebensjahr erforderlich. Die kontinuierliche, liebevolle Anleitung durch die Eltern führt dazu, dass das Kind diesen Ablauf irgendwann verinnerlicht hat. Durch dieses kontinuierliche Training verschiedener Funktionen bildet sich in den ersten 20 Lebensjahren allmählich die menschliche Psyche heraus.
Was raten Sie Eltern und Erziehern?
Ich bin kein Ratgeber und suche auch nicht nach Schuldigen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass ohne die psychische Reife-entwicklung des Kindes alle pädagogischen und sozialpolitischen Reformen scheitern werden. Als Erwachsener soll man überprüfen, ob man sich in einer Beziehungsstörung befindet. Denn Kinder haben nur dann eine Chance auf eine gesunde Reifeentwicklung, wenn sie als Kinder gesehen und behandelt werden.
Zur PersonMichael Winterhoff, geboren 1955, ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er lebt zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern in Bonn. Nach einem Studium der Humanmedizin in Bonn absolvierte Winterhoff eine fünfjährige Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in verschiedenen Krankenhäusern und Psychiatrien in Deutschland, sodann eine Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten. Seit 1988 betreibt Winterhoff eine eigene Praxis in Bonn. 1993 gründete er zusammen mit Kollegen ein Heim für psychisch stark gestörte Kinder und Jugendliche.
Im Frühjahr 2008 erschien sein Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit" (Gütersloher Verlagshaus, Bielefeld).
Im Universitäts-, Schul- und Firmenbereich werden immer häufiger Leistungsschwächen, fehlende Sozialkompetenzen und eine übertriebene Anspruchshaltung bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Lehrer und Erzieher fordern Grenzziehungen. Winterhoff meint jedoch, dass dies nichts helfe. Er sieht die Ursache für die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern darin, dass sie keine Kinder mehr sein dürfen.
Sein Ansatz scheint für viele der erhoffte Ausweg aus der Misere, sodass es sein Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" an die Spitze der deutschen Bestsellerliste geschafft hat. Auch in Japan und Korea soll es veröffentlicht werden. Winterhoff verbindet Kindheitsdeutung nach Sigmund Freud mit neurologischen Erkenntnissen.
Allerdings ist Winterhoffs Buch auch auf Widerspruch gestoßen: In vielen Internet-Diskussionsforen streiten Eltern, Lehrer und Erziehungswissenschafter darüber, ob die These von der "Abschaffung der Kindheit" zutrifft oder nicht.