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Michela Marzano

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

Die italienische Philosophin Michela Marzano über Körperwahrnehmungen, gesellschaftliche Ideale, die Beeinflussung durch Vor-Bilder - und die Überwindung ihrer eigenen Magersucht.


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"Indem wir unsere Körperformen bestimmen und beherrschen, glauben wir, auch unser Leben in den Griff zu bekommen." Michela Marzano
© Foto: privat

"Wiener Zeitung": Frau Marzano, was macht den Körper für Sie als Philosophin interessant?Michela Marzano: Ich interessiere mich für den Körper, weil jeder Einzelne von uns "in" und "durch" seinen Körper auf der Welt ist. Jeder Mensch kennt das positive Gefühl, ganz in seinem Körper zu sein, aber manchmal wollen wir ihn uns auch buchstäblich vom Leib halten, zum Beispiel dann, wenn er uns seine Mängel und Bedürfnisse aufzwingt. Zugleich ist der Körper aber unsere einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu leben und anderen Menschen zu begegnen.

Heutzutage hat fast jeder etwas an seinem Körper auszusetzen, gerade mit zunehmendem Alter. Das beginnt schon beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Wie erleben Sie das?

Da bin ich persönlich auch keine Ausnahme, ich empfinde das Älterwerden als schwierig. Auch mir macht es Angst, dass die Zeit verstreicht und ihre Spuren in meinem Gesicht und auf meinem Körper hinterlässt. Der Körper verweist uns eben auf all das, was wir nicht sein wollen. Der Körper ist das Wahrzeichen unserer Menschlichkeit und Endlichkeit.

Beim Thema Endlichkeit verschließen wir gern Augen und Ohren . . .

Verständlicherweise! Aber wenn wir uns nicht für den Körper interessieren, können wir weder unser Verlangen begreifen, immer wieder die Grenzen zu überwinden, auf die uns unser Körper zurückwirft, noch die Ohnmachtsgefühle, die wir manchmal verspüren. Es ist die beste Art und Weise, die überaus große Verwundbarkeit der menschlichen Existenz zu studieren.

Sie schreiben in Ihrem Buch "Philosophie des Körpers": Jede Gesellschaft hat "ihren" Körper, so wie sie "ihre" Sprache hat. Welchen Körper hat unsere Gesellschaft?

Der Körper, von dem man heute immerzu spricht, ist ein "beherrschter" Körper, ein Körper unter "Kontrolle". Wir glauben, unsere Körperlichkeit dank der Allmacht des Willens zu beherrschen. Es existiert ein regelrechter Körperkult, selbst wenn dieser Körper, von dem man spricht, in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. Wir meinen im Grunde einen idealen Körper, der allerdings mit dem tatsächlichen Körper gar nichts zu tun hat. Nehmen Sie zum Beispiel das Fernsehen und das Internet: Wir werden dort immer mehr mit Bildern vollkommen beherrschter Körper konfrontiert. Das gilt übrigens für Frauen wie für Männer.

Der ehemalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi ist mit seinem "modernisierten" Gesicht ein erschreckendes Beispiel dafür. Seit Februar sitzen Sie sogar mit ihm im italienischen Parlament. Wie wirkt sein Gesicht auf Sie?

Berlusconis Gesicht lässt mich an eine Maske denken: die Maske der Macht. Es sieht so aus, als ob der einzige Weg für ihn, Macht auszuüben, darin bestünde, jeglichen menschlichen Ausdruck zu tilgen. Ein solch erstarrtes und verschlossenes Gesicht lässt keinerlei Dialog mit einem Gegenüber zu.

Im Gesicht zeigt sich doch auch die Verletzlichkeit des Menschen. Ertragen wir diese Verwundbarkeit nicht?

Es ist niemals einfach, die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren, insbesondere die Tatsache, dass man nicht "alles" haben und "alles" sein kann.

Inwiefern sind Prominente mit ihren Körpern Vorbilder, selbst wenn wir diese Vorbilder nicht gewollt haben?

In einer Zeit, wo der Schein und die Bilder so wichtig geworden sind, werden Menschen selbstverständlich von Prominenten und deren Haltung gegenüber ihrem Körper beeinflusst. Wenn sich ein weiblicher Star liften lässt, um Falten verschwinden zu lassen, sendet sie damit anderen Frauen eine klare Botschaft: Wenn ihr berühmt werden wollt, müsst ihr euch auch operieren lassen.

Welchen Stellenwert haben Schönheits-Op’s, Diäten oder auch Sport?

Jeder Mensch, "der es sich wert ist" ist, muss sich heutzutage seines Körpers annehmen, es reicht nicht aus, nur "er selbst zu sein". Der Körper muss schön, schlank, gesund und sexy sein. Indem wir unsere Körperformen bestimmen und beherrschen, glauben wir, auch unser Leben in den Griff zu bekommen. Sogar dann noch, wenn wir das genaue Gegenteil damit erreichen: Je mehr wir versuchen, Kontrolle auszuüben, desto mehr entgleitet uns der Körper. Der "gestylte" Körper ist nicht nur Schönheitssymbol, sondern steht für sozialen Erfolg, Glück und Ruhm. Schönheit ist ja längst nicht mehr nur ein Wert an sich.

Aber ist eine kleinere Schönheits-OP wie etwa eine Nasen- oder Lippenkorrektur nicht harmlos, vergleichbar etwa mit einer neuen Frisur?

So eine kleine "Schönheitskorrektur" lässt sich durchaus mit einem neuen Haarschnitt vergleichen. Ähnlich wie eine neue Frisur können ästhetische Veränderungen aber weder unser Leben ändern noch uns Selbstvertrauen geben. Genau darin besteht ja der Trugschluss: zu glauben, dass unser Selbstbewusstsein davon abhängt, wie sehr wir den Schönheitsidealen entsprechen.

Wissen wir einfach nicht mehr, was uns und unserem Körper gut tut? Sind wir "Körperanalphabeten", wie es die österreichische Schriftstellerin Sabine Gruber nennt?Sie hat vollkommen Recht. Wir tun uns alle schwer damit, unseren Körper mit seinen Grenzen und seiner Zerbrechlichkeit anzunehmen. Wir möchten, dass er sich stets gemäß unseren Erwartungen verhält. Gerade deshalb sind wir so darum bemüht, ihn zu kontrollieren. Doch der Körper holt uns immer wieder ein, wie alle wissen, die jemals ernsthaft krank gewesen sind. Wenn unser Körper krank ist, sind wir es auch. Und es hilft rein gar nichts, dies abzustreiten.

Sie waren selbst sehr krank, sprechen also aus Erfahrung.

In der Tat. Denn ich war lange Jahre magersüchtig. Und ich sage Ihnen: Lange Zeit hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich jemals - so wie jetzt mit Ihnen - darüber sprechen könnte. Meine Krankheit war mein Geheimnis. Dann aber habe ich nach und nach das Bedürfnis verspürt, davon zu erzählen . . .

. . . und haben darüber ein Buch geschrieben. Warum?

Weil Anorexie nichts ist, wofür man sich schämen muss. Es ist keine Schande, sondern ein "Symptom". Das Buch trägt den Titel "Légère comme un papillon". Und genau so wollte ich sein: so perfekt und so leicht wie ein Schmetterling. Beinahe wäre mir das auch gelungen, freilich nur in puncto Kilos . . .

Wofür ist Magersucht Ihrer Ansicht nach ein Symptom?

Magersucht ist ein Symptom, das wieder an die Oberfläche zurückbringt, was dem Menschen tief in seinem Inneren Schmerzen bereitet: Angst, Verzicht, Gewalt, Aggression, Wut. Magersucht kann manchmal auch der Versuch sein, sich vor all dem zu schützen, was der Kontrolle entgleitet, selbst dann, wenn man Gefahr läuft, daran zu sterben.

Wie verstehen Sie Ihre Krankheit im Rückblick?

In meinem Fall war es eine äußerst schmerzhafte Art und Weise, "nein" zu sagen: Nein, ich bin nicht perfekt; nein, ich bin nicht diejenige, für die du mich hältst, nein, ich will nicht mein ganzes Leben damit zubringen, den Erwartungen anderer zu entsprechen . . . Ich bin immer ein sehr braves Kind gewesen, aber um welchen Preis? So brav, dass ich im Laufe der Jahre vergessen hatte, wer ich tatsächlich bin.

Wie lange haben Sie gebraucht, um die Magersucht zu überwinden?

Sehr, sehr lange - fast zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre Psychoanalyse, in denen ich nur sehr langsam meinen roten Faden wiedergefunden habe, zwanzig Jahre, um endlich das aussprechen zu können, was mir all die Jahre zuvor nicht gelungen war.

Hat sich dadurch Ihre Haltung zur Philosophie geändert?

Enorm! Lange Zeit habe ich geglaubt, dass die Philosophie dazu dient, die Welt zu erklären, um sie damit aber letztlich nur besser kontrollieren zu können. Schließlich aber ist mir klar geworden, wie jämmerlich im Grunde abstrakte Theorien sein können. Wie sagte die Philosophin Hannah Arendt so schön: Am Ende zählen nur die Ereignisse - all das, was in der Welt geschieht und sie verändert; all das, was uns berührt und ängstigt, all das, was uns dazu zwingt, uns Fragen zu stellen und Antworten dafür zu finden, selbst dann, wenn uns das nie gelingen sollte.

Wie geht es Ihnen heute?

Sagen wir so: Ich habe gelernt, wenn auch auf schmerzhafte Art und Weise, mit meinen Unvollkommenheiten zu leben. Es hat seine Zeit gedauert, bis mir bewusst wurde, dass die wahrhaftige Leichtigkeit erst dann entsteht, wenn ich mich so akzeptiere, wie ich bin.

Kann die Philosophie beim Umdenken helfen?

Oh ja, natürlich! Weil die Philosophie eine Möglichkeit darstellt, sowohl von der Endlichkeit als auch von der Lebensfreude zu erzählen. Mit Hilfe der Philosophie können wir begreifen, wie ungeheuer viel Mut dazu gehört, nicht mehr zu leiden, und zugleich wie zerbrechlich die Liebe ist, die unserem Leben Sinn gibt.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, Coach und Lehrerin in München.

Zur Person
Michela Marzano,  geboren 1970 in Rom, lebt seit 1998 in Paris. Sie hat einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Paris Descartes inne. Die Italienerin ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Bücher. Soeben ist im Diederichs Verlag ihr Buch "Philosophie des Körpers" erschienen. 2012 erschien im französischen Verlag Grasset ihre Autobiographie "Légère comme un papillon" ("So leicht wie ein Schmetterling"). Darin beschreibt sie den jahrelangen Kampf gegen die eigene Magersucht.
Seit Februar 2013 sitzt Marzano für das Mitte-Links-Bündnis im italienischen Parlament.