Kanadas Botschafter Mark Bailey über positiven Patriotismus, Donald Trump, Brexit und Ceta.
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"Wiener Zeitung": Kanada ist ein Einwanderungsland und wird immer wieder als eine jener Nationen genannt, die die Zuwanderung sehr gut bewältigen. Warum ist das so?
Mark Bailey: Kanada ist in einer sehr viel komfortableren Position, die Migration zu managen, als Europa. Unser Land ist an drei Seiten vom Meer umgeben, zur nächsten Küste ist es wirklich weit. Im Süden haben wir eine sehr lange Landgrenze zu einem Land, das selbst Einwanderungsland ist. Da kommt es nur sehr selten vor, dass Migranten von den USA nach Kanada weiterziehen. Zweitens: Kanada war schon immer Einwanderungsland. Und das ist es bis heute. Eines der ersten Ministerien, das wir hatten, war ein Ministerium, das für Zuwanderung zuständig war. In Europa ist das anders. Viele europäische Länder waren Länder der Emigration. Immer wieder mussten Menschen vor Krieg und Verfolgung aus Europa fliehen oder sie haben ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen - etwa Italien oder Irland. Die Geografie Europas verkompliziert das Management von Wanderungsbewegungen. Dazu kommt auch noch der tragische derzeitige Konflikt im Nahen Osten - in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas, der Millionen von Menschen in die Flucht getrieben hat. Was wir in Kanada aber geschafft haben und was für die Europäer vielleicht interessant ist: Wenn es um die Integration von Neuankömmlingen geht, dann überlassen wir in Kanada nichts dem Zufall. Wir haben Integrationsprogramme auf nationaler, regionaler und Gemeindeebene. Es geht um Sprachtrainings, um die Anerkennung von Zeugnissen, um Qualifizierung.
Hat die Wahl von Donald Trump in den USA und die veränderte Perspektive auf Zuwanderung einen Einfluss darauf, wie die Dinge in Kanada gesehen werden?
Alles, was in den USA passiert, färbt auf Kanada ab. Allerdings bin ich skeptisch, ob sich die Dinge in den USA wirklich so verändern werden, wie manche jetzt meinen. Tatsache ist, Zuwanderung ist einfach zu wichtig für unsere Gesellschaft und für unsere Wirtschaft. In manchen Ländern wird Zuwanderung als Bürde gesehen. Es gibt aber viele stichhaltige Hinweise darauf, dass Migration einen deutlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Dynamik und wirtschaftlichen Aktivität leistet.
Kanada versucht es auch mit einer Form des inklusiven Patriotismus. Wie funktioniert das?
Das Schlüsselwort ist: inklusiv. Unser Zugang zu Multikulturalismus ist, dass wir nicht von den Menschen, die nach Kanada kommen, verlangen, dass sie vergessen, wer sie sind und woher sie zu uns gekommen sind. Die Religion, ihre Traditionen, ihre Gebräuche - all das ist in unserer Gesellschaft willkommen. Alles was zählt, ist, dass die Menschen die Gesetze respektieren. Wenn ihre Religion es erfordert, dass sie ein Kopftuch tragen, eine Kippa, einen Schtreimel, Kaftan, Sikh-Turban, dass sie einen langen Bart haben oder Beikeles Schläfenlöckchen, dann ist das ihre Privatsache. Die Traditionen werden als Teil des Mosaiks, der Tapisserie der kanadischen Gesellschaft akzeptiert. Was wir aber hoffen und erwarten, ist, dass alle, die sich in Kanada niederlassen, kanadische Bürger werden, dass sie an Wahlen teilnehmen und sich an den demokratischen Prozessen beteiligen. Und wir hoffen, dass sie sich eines Tages für öffentliche Ämter zur Verfügung stellen. An unserem jetzigen Kabinett sehen Sie, dass das ganz gut funktioniert. Um nochmals zum Kern Ihrer Frage zurückzukehren: Ich würde sagen, dass es in Kanada recht gut gelingt, dass bei allen Bürgerinnen und Bürgern ein Gefühl der Zugehörigkeit und des positiven Patriotismus entsteht.
Rückblickend: Wie haben Sie die Kontroverse in Österreich rund um Ceta erlebt?
Eine der Folgen war, dass wir in der Botschaft täglich Berichte nach Ottawa schicken mussten. Letztlich ist es in den Diskussionen gelungen, dass beide Seiten ihre Interpretationen des Abkommens darlegen. In Kanada hatte man auch Verständnis über die Besorgnis, die es rund um bestimmte Umweltstandards und Standards der Lebensmittelsicherheit gab. Unsere Position war aber immer, dass Ceta in dieser Frage keine Wünsche offenlässt. Ein 1600 Seiten langes Abkommen ist aber natürlich komplex und sehr schwer zu überblicken. Die nach den Diskussionen zwischen den kanadischen und europäischen Verhandlern beigefügte interpretative Deklaration hat schließlich einen wertvollen Beitrag geleistet, dass bestimmte wichtige Aspekte des Abkommens noch einmal ganz deutlich dargestellt werden. Zudem wurde klargestellt, dass das System der Schiedsgerichte nicht dazu führt, dass der Staat bei seinen Handlungen, die er im Interesse der Öffentlichkeit setzt, behindert wird. Auf diese Weise konnten die wichtigsten Streitfragen zur Zufriedenheit aller geklärt werden. Und das wiederum hat es schließlich Bundeskanzler Christian Kern erlaubt, diesem Abkommen zuzustimmen. Sie können mir glauben: In Kanada wurde diese Unterschrift mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis genommen.
Kann es nicht sein, dass die Bürgerinnen und Bürger der Globalisierung und dem internationalen Freihandel heute viel kritischer gegenüberstehen als 2009, als man begonnen hat, das Abkommen zu verhandeln? Da hat sich von 2009 bis zum Tag der Unterzeichnung am 30. Oktober 2017 einiges geändert?
Ceta wurde ja auch in Kanada intensiv debattiert und es gab ja auch etliche kritische Stimmen. Allerdings hat die Debatte zu keinem Zeitpunkt denselben Grad an Intensität oder Emotionalität erreicht, wie wir das in anderen Ländern gesehen haben.
Welche Erklärung haben Sie dafür?
Wir haben ja einige Erfahrung mit solchen Abkommen, etwa mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta (Anm.: englisch für North American Free Trade Agreement). Die Mehrheit der kanadischen Öffentlichkeit hat den Eindruck, dass unsere Wirtschaft von einer erhöhten wirtschaftlichen Aktivität profitiert, die aus solchen Abkommen resultiert. Zweitens verstehen die Menschen, dass derartige Abkommen sich um den Handel drehen. Es soll bei internationalen Handelsabkommen nicht darum gehen, wie sich eine Gesellschaft organisiert. Es soll nicht um die Steuergesetzgebung gehen oder um einen Eingriff in die nationale Wirtschaftspolitik. Daher war die Unterstützung für Ceta sehr breit: Regierung wie Opposition - die Verhandlungen wurden ja initiiert, als die heutige Opposition an der Regierung war - standen zu jedem Zeitpunkt voll dahinter. Aber: Die jetzige Regierung versteht auch, dass die Menschen die Frage der sozialen Ungleichheit unter den Nägeln brennt. Und sie verstehen, dass die Menschen Sorge haben vor dem möglichen Verlust von Arbeitsplätzen durch neue Technologien. Gerade weil diese Regierung diese Themen angesprochen hat, ist sie gewählt worden. Das Versprechen lautete, die Mittelschicht wieder zu stärken und diejenigen zu unterstützen, die in die Mittelschicht aufsteigen wollen.
Wie hat man in Kanada den Wahlsieg von Donald Trump aufgenommen?
Unsere Regierung war über den Wahlsieg von Donald Trump zum US-Präsidenten überrascht. Aber unsere Politiker waren - im Gegensatz zu anderen - sehr vorsichtig, sich im Vorfeld der Wahl über Donald Trump zu äußern. Retrospektiv war das eine sehr weise Entscheidung (lacht). Die Kanadier verstehen, dass unser Land eng mit dem Nachbarn USA zusammenarbeiten muss. Einige Elemente von dem, was Trump während der Wahlkampagne gesagt hat, sind für uns einigermaßen schwer zu verdauen - etwa als er meinte, man sollte Nafta aufkündigen. Aber es ist nicht klar, ob die Dinge, die er während der Kampagne gesagt hat, auch jetzt, wo er gewählt ist, Teil seines Programms werden. Unsere Regierung nimmt also vorerst eine abwartende Haltung ein. Es gibt zwei Dinge, die ein kanadischer Premierminister nicht an seine Minister delegieren kann. Erstens: die Frage der nationalen Einheit und Quebec. Zweitens: die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Beides ist Chefsache.
Kanada hat besonders innige historische Beziehungen zu Großbritannien und zu Frankreich. Wie wurde der Brexit in Kanada aufgenommen?
Unser Premierminister Justin Trudeau hat - genauso wie US Präsident Barack Obama - die Briten beschworen, für den Verbleib in der Europäischen Union zustimmen. Leider wurde der Rat der beiden von den meisten Briten nicht befolgt. Kanada hat gerade erst ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union unterschrieben. Natürlich wird Kanada nun versuchen, so freie Wirtschafts- und Handelsbeziehungen wie möglich mit Großbritannien zu unterhalten. Was immer wir tun können, um das noch weiter zu verbessern, werden wir natürlich tun.
Mark Edward Bailey (geb. 20. 8. 1951) ist in Victoria, British Columbia geboren. Er ist kanadischer Botschafter in Österreich, der Slowakei und für die Vereinten Nationen in Wien. Er verfügt über Erfahrung in Nahost und am Golf, der Türkei, Nordafrika, den UN und den USA.