Zum Hauptinhalt springen

Migranten verzweifelt gesucht

Von Maria Reininger

Politik

Die Rechtsparteien sind mit der Warnung vor einem Flüchtlingsansturm auf Stimmenfang gegangen. Die Realität im Land ist aber oft eine ganz andere.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Vor drei Jahren hatte das Thema Migration Matteo Salvini und seiner Lega einen Erdrutschsieg bei der Wahl zum EU-Parlament beschert. Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 war noch in allen Köpfen präsent, Salvini gelang es, mit einem fokussierten Wahlkampf 34 Prozent der Stimmen einzusammeln und erstmals stärkste Kraft in Italien zu werden.

Entsprechend nahe lag es daher für die Parteien der italienischen Rechtskoalition auch, diesmal mit der Warnung vor einem erneuten Flüchtlingsansturm in den Wahlkampf zu ziehen. Auf den Wahlveranstaltungen wurde vor einer regelrechten Invasion gewarnt. Italien, das bereits jetzt die Hauptlast in der Europäischen Union trage, werde durch die enorm gestiegene Zahl der Aufenthaltserlaubnisse für Nicht-EU-Bürger destabilisiert.

Die angedrohte Welle der Bootsflüchtlinge, die kurz vor der Wahl in Italien ankommen sollten, ist jedoch ausgeblieben. Und auch sonst passen die Zahlen der vergangenen Monate nur bedingt zum Narrativ, das von Lega, Fratelli d’Italia und Silvio Berlusconis Forza Italia getrommelt wird. Die Zahl der Ankünfte sei im Vergleich zum Corona-Jahr 2021 ein klein wenig gestiegen, aber niedriger als früher, sagt der Soziologe Maurizio Ambrosini von der Universität Mailand. So sind heuer bisher 60.000 Flüchtlinge angekommen, im Jahr davor waren es 40.000 gewesen. In den Jahren 2016 und 2017 lag die Zahl aber bei jeweils 150.000.

Ambrosini zufolge kommt Italien in der Reihung der Anlaufstaaten von Asylsuchenden in der EU auch erst auf Rang vier. Gemessen an der Einwohnerzahl liege das Land im EU-Vergleich überhaupt auf den hinteren Plätzen. So verzeichne Italien 3,4 Asylwerber pro 1.000 Einwohner, in Schweden liege die Rate bei 25, in Deutschland bei 14 und in Frankreich bei 6. Auch der Fokus auf bedrohliche Männer aus Afrika habe keine Berechtigung, sagt Ambrosini. Die Migranten seien mehrheitlich weiblich, keineswegs muslimisch und kämen aus Europa. So arbeiten Frauen aus Albanien und Rumänien billig in Italiens Haushalten, Männer aus den Balkanländern halten die Baustellen am Laufen. Flüchtlinge aus Afrika südlich des Maghreb machten dagegen weniger als 10 Prozent der Immigranten aus.

Verwaiste Dörfer im Süden

Und noch etwas ist anders als öffentlich wahrgenommen: Migranten werden in vielen süditalienischen Ortschaften gesucht. Hunderte Dörfer und Kleinstädte sind nahezu verlassen. Serastretta in den Bergen Kalabriens ist so ein Ort: Im Sommer, wenn die Jungen aus Norditalien heimkommen, um hier Urlaub zu machen, leben hier 2.000 Menschen. Im Winter ist der Ort dagegen verwaist, gerade mal 600 Menschen wohnen dann da.

Barbara Aiello hat seit Jahren beobachtet, wie in Serastretta Häuser zum Spottpreis an Pensionisten aus dem Norden verkauft werden. "Aber die tragen nichts zum Wachstum des Orts bei", sagt sie, "wir brauchen junge Leute, die bereit sind, hier zu bleiben." Aus diesem Grund haben Aiello, die übrigens die einzige Rabbinerin Italiens ist, und ihre Mitstreiterinnen seit Jahren versucht, jüngere Einwanderer zur Ansiedlung in Serastretta zu bewegen.

Ein lange geplantes Projekt mit Partnern aus Venezuela ging schief, weil deren Impfungen gegen Corona in Italien nicht anerkannt wurden. Jetzt sind fünf Familien aus der Ukraine da, Frauen und Kinder.

Barbara Aiello ist stolz auf die Organisation durch ihre Hilfsorganisation "In Esther’s name". Bereits vor der Einladung habe man 60.000 Euro gesammelt. Mit dem Geld habe man in den ersten Monaten dem Supermarkt die Einkäufe der Ukrainerinnen zahlen können und die Ortsansässigen Italienisch- und Kochkurse machen lassen. Mittlerweile arbeitet eine der Frauen als Friseurin im Ort. Es sei wichtig, dass auch der Ort einen Vorteil aus der Anwesenheit der Flüchtlinge ziehe, sagt Aiello. Auch sei es gut gewesen, dass die Hilfsorganisation gezielt eingeladen hat: nur Kinder zwischen drei und elf Jahren. Für Teenager, die abends oder überhaupt in die Städte wollen, hätte man zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Verantwortung übernehmen können.

Viele bleiben nur kurz

Der Soziologe Ambrosini glaubt nicht, dass das Modell Serastretta Zukunft hat. Es sei ein gutes Projekt für vorübergehende Hilfe, dafür wären auch öffentliche Investitionen sinnvoll. In der Regel zögen die Immigranten aber nach ein paar Jahren wieder aus den süditalienischen Orten weg. So war Riace, auch eine der halbverlassenen Städte in Kalabrien, einst ein nationales Vorzeigeprojekt für die Ansiedlung von Immigranten. Mittlerweile sind aber viele der Neuankömmlinge wieder fort.

Billige Bauarbeiter und Arbeitskräfte im Tourismus werden aber auch in Norditalien gesucht. Ausgerechnet zwei Minister der Lega ließen die jahrelang übliche Planzahl von 31.000 Arbeitserlaubnissen für 2022 mehr als verdoppeln auf nahezu 70.000.

Die Symbolpolitik der Wahlslogans, die auf Abwehr setzt, habe kaum mit der tatsächlichen Migrationspolitik der Rechtspopulisten zu tun, erklärt Forscher Ambrosini. Der Umgang mit Einwanderung und Migration müsse auch in Italien dringend komplexer gedacht werden.