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Migration andersrum

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung".
© WZ

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50.400 Migranten kamen im ersten Halbjahr 2018 auf dem Gebiet der EU an. 2017 waren es noch 184.800, 2016 374.300 und 2015 1.047.200 Menschen. Man möchte also meinen, dass das Thema beim EU-Gipfel auf der Tagesordnung nicht mehr ganz oben steht - denn es gäbe eigentlich genug andere Themen: den Handelsstreit mit US-Präsident Donald Trump, der die wirtschaftliche Entwicklung der Union gefährdet. Oder den Brexit, den die Regierung von Theresa May derart inkompetent vorbereitet, dass die Ängste, es könnte zu einem ungeordneten, chaotischen Ausscheiden Großbritanniens aus der Union kommen, immer mehr Nahrung bekommen. Und dann ist da noch die Euro-Reform, die abgeschlossen werden sollte, bevor die nächste Wirtschaftskrise das immer noch nicht sturmsichere Eurozonen-Gebäude umtost.

Doch am EU-Gipfel gibt es nur ein Thema: Migration.

Einige Regierungschefs, die sich stark vernehmbar zum Thema äußern, verkennen freilich die wahren Migrationsprobleme ihrer Länder: Nach Ungarn verirren sich zwar kaum Migranten, dafür haben zwischen 500.000 und 800.000 meist gut ausgebildete, junge Magyaren der illiberalen Demokratie Viktor Orbáns den Rücken gekehrt. Italien ist - im Gegensatz zu Ungarn - tatsächlich eines der am meisten von Migration betroffenen Länder Europas. Das Hauptproblem des Landes ist aber ebenfalls die Emigration junger, gut ausgebildeter Italiener. 1,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben das Land seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise verlassen. Die neue Regierung von Fünf-Sterne-Chef Luigi Di Maio und Lega-Nord-Mann Matteo Salvini bleibt freilich die Antwort schuldig, wie sie die Wirtschaft ihres Landes flottkriegen und diesen zumeist jungen Menschen Zukunftschancen bieten wollen.

Beide Fragen - Braindrain der Jungen und Angst vor Migranten - sind übrigens verquickt, wie der in Wien tätige bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev in seinem lesenswerten Buch "Europadämmerung" eindrucksvoll darlegt.

In Brüssel wird in der Zwischenzeit über den Schutz der Außengrenzen und die Stärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex und über die Verstärkung der Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern diskutiert und der Versuch unternommen, die derzeit noch vage Idee sogenannter "Hotspot"-Aufnahmezentren zu konkretisieren.

EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani meinte auf die Frage der deutschen Wirtschafts-Tageszeitung "Handelsblatt", ob die EU am Migrations-Streit zerbrechen könnte: "Ich bin besorgt, die Situation ist sehr gefährlich."

Ob es ausgerechnet am EU-Gipfel gelingt, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen? Man darf weiter besorgt sein.