Die Geschichte(n) jener Menschen, die als Arbeiter nach Österreich geholt wurden, müsste(n) längst im kollektiven Gedächtnis festgeschrieben werden.
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Gelegentlich wurde in den vergangenen Jahren konstatiert, die Geschichte der Migration müsste (endlich!) in Österreichs kollektives Gedächtnis eingeschrieben werden. Bisher gibt es hier ganz offensichtlich eine Leerstelle und wird von der Mehrheit im Land immer noch gerne eine - freilich nie da gewesene - homogene Nation imaginiert oder sogar gewalthaft zu realisieren gefordert. Der lange Zeit verwendete, übrigens aus der NS-Zeit herrührende Begriff des "Gastarbeiters", der das Land wieder zu verlassen hat, sobald seine Arbeitskraft nicht mehr benötigt wird, ist Ausdruck dieser Tatsache wie auch Mitursache für die gegenwärtige Situation. Wie aber wäre etwas ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben? Schulbücher spielen da sicher eine große Rolle, auch Museen und Ausstellungen. Vor allem aber müssten die Geschichten und Erfahrungen der Migration erst einmal im Archiv ankommen, der grundlegendsten Infrastruktur des kollektiven Gedächtnisses. Bisher ist die Migration in den etablierten Einrichtungen schlecht vertreten; systematisch ist dazu praktisch nicht gesammelt worden; wichtige Bestände sind verstreut und auch weitgehend unbekannt (oder bereits vernichtet worden); historisches Erfahrungswissen und private Überlieferungen drohen durch den generationellen Wandel verloren zu gehen. Der öffentliche Diskurs wird neben den bedauerlicherweise dominierenden Polemiken und Rassismen bestimmt von sozialwissenschaftlichen Analysen und Statistiken, nicht aber von historischem Wissen und Geschichte(n), auch weil Grundlagen fehlen.
Wie sollte ein Archiv der Migration aussehen? Sollte es ein integrierter Teil der etablierten staatlichen Archive sein? Oder eine eigenständige Einrichtung? Im einen Fall droht das Thema vielleicht erneut unsichtbar, im anderen eine gesellschaftliche Ghettoisierung dupliziert zu werden. Welche Quellen wären relevant und müssten gesichert werden? Neben staatlichem Schriftgut die Überlieferungen gesellschaftlicher und politischer Organisationen wie der Gewerkschaften und natürlich von Unternehmen. Und welche Formen und historischen Ausprägungen von Migration sollten berücksichtigt werden, jenseits der die Debatte prägenden Arbeitsmigration seit den 1960ern? Entscheidend ist in jedem Fall, den Betroffenen selbst einen Raum zu geben. Ihre Stimmen und Erinnerungen bleiben zu oft ungehört. Die Dokumente migrantischer Selbstorganisation sollten ebenso bewahrt werden wie individuelle Zeugnisse.
Neben umfangreichen historischen Recherchen bedarf es vor allem einer öffentlichen Debatte. Letztlich geht es um eine Veränderung der allgemeinen Wahrnehmung: Migration und Migranten als ein selbstverständlicher, sicht- und hörbarer Teil der Gegenwart und Geschichte. Vermutlich wird sich im Laufe einer solchen Debatte zeigen, dass unterschiedliche Maßnahmen und Strukturen nötig sind, etwa ein eigenständiges Archiv der Migration und der Migranten, aber auch eine verstärkte Berücksichtigung in bestehenden Einrichtungen. Und damit wäre vielleicht ein wichtiger Schritt getan, um Migration im kollektiven Gedächtnis Österreichs zu verankern.