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"Migration entsteht durch globale Ungleichheit"

Von Thomas Seifert

Politik

Der bekannte Ökonom Tony Atkinson über die UN-Entwicklungsziele, die positiven Folgen der Migration und den starken Staat.


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"Wiener Zeitung": Die UN-Vollversammlung hat neue Entwicklungsziele verabschiedet - die sogenannten "Ziele nachhaltiger Entwicklung". Ein wichtiger Punkt dabei ist die Armutsbekämpfung. Welche Bedeutung haben diese Ziele?Tony Atkinson: Alle Regierungen dieser Welt haben versprochen, die Armut in ihren jeweiligen Ländern in den kommenden 15 Jahren zu halbieren. Das ist übrigens ein doppelt so ambitioniertes Ziel, wie es sich die Europäische Union gesteckt hat. Natürlich kann man sagen: "Das sind ja alles nur leere Worte." Aber als sich die Welt vor 15 Jahren ähnlich ambitionierte Ziele gesteckt hat, hätte niemand gedacht, dass man so erfolgreich sein würde, denn die extreme Armut konnte von 1990 bis 2015 halbiert werden.

Welche Bedeutung kommt der Entwicklungshilfe zu?

In den 90er Jahren war die Welt ziemlich nach innen gewandt. Der britische Premierminister Tony Blair - der heute vor allem damit in Zusammenhang gebracht wird, Großbritannien in den desaströsen Irak-Krieg hineingezogen zu haben - hat sich um die Entwicklungspolitik Meriten erworben. Und sogar der damalige US-Präsident George W. Bush - der Hauptverantwortliche für diesen Krieg - hat die Entwicklungshilfe der USA erhöht.

Welche Bedeutung spielt die Diskussion um den Klimawandel in der Frage der sozialen Ungleichheit?

Das ist vor allem eine Frage der intergenerationalen Solidarität. Denn wenn wir keine Solidarität mit den Nachgeborenen zeigen, hinterlassen wir den folgenden Generationen eine Welt, die auf ein Desaster zusteuert. Was mich zuletzt beunruhigt hat: Nach Umfrageergebnissen ist zuletzt die Zustimmung zu Klimaschutzmaßnahmen bei den älteren Amerikanern gesunken. Sie haben Angst um ihre Pensionen und die medizinische Versorgung.

Inwieweit ist soziale Ungleichheit eine Folge der Flucht- und Migrationswellen, wie wir sie derzeit erleben?

Flucht ist eine Folge von Menschenrechtsverletzungen, Krieg und Bürgerkrieg. Der wichtigste Grund für Migration ist die globale Ungleichheit. Wenn die Länder des globalen Südens sich nicht entwickeln können, dann gehen die Menschen eben dorthin, wo es Entwicklungschancen für sie gibt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es in der Geschichte immer gewaltige Migrationswellen gab. Europa wäre heute ein deutlich ärmerer Kontinent, wenn es keine Migration gegeben hätte.

Migration wirkt sich also zumeist positiv aus?

Die wirtschaftlichen Folgen von Wanderungsbewegungen auf die betroffenen Länder sind nach den meisten Studien, in denen das untersucht wurde, zumeist positiv. Denken wir zurück: Viele Menschen, die aus Europa ausgewandert sind, haben ihre Lage in Neuseeland, den USA, in Kanada, Australien oder Südamerika verbessern können.

Migration verursacht auch Spannungen.

Darum muss darauf geachtet werden, dass die Last, die sich vor allem am Anfang bei Zuwanderung ergibt, nicht disproportional auf jene, die ohnehin schon arbeitslos sind, oder in prekären Wohn- oder Arbeitssituationen leben müssen, abgewälzt wird. Die Herausforderungen im Bildungsbereich, am Wohnungsmarkt oder am Arbeitsmarkt müssen angegangen werden, egal, ob die EU-Staaten mit Migration konfrontiert sind oder nicht. Worauf ich hinweisen möchte: Kapital ist hochgradig mobil, Arbeitskräfte sind das nicht. Sie brauchen ein Visum, Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitsgenehmigung. Das führt zu einem gewissen Druck. Dabei leistet Migration einen wichtigen Beitrag zu einer gerechteren Welt. Zuerst einmal eröffnet sie dem Zuwanderer nicht nur Aufstiegs- und Bildungschancen, sondern die Remissionen, die noch jahrzehntelang ins Herkunftsland fließen, helfen dort, die wirtschaftliche Situation der Familie zu verbessern. Zudem entstehen kulturelle und persönliche Kontakte, die auch beiden Seiten, dem Land, aus dem die Migranten stammen, und dem Land, in das sie ausgewandert sind, wirtschaftliche Vorteile bringen können.

Das sehen einige Länder der Europäischen Union derzeit aber offenbar anders.

Das mag sein. Das Problem der EU ist aber mangelnde Solidarität. Und mangelnder Vorausblick. Solange die Flüchtlinge in Malta, Griechenland oder Italien ankamen, hat man sich in Mitteleuropa wenig um das Thema gekümmert. Man hat die Länder Südeuropas mit dem Problem völlig alleine gelassen. Aber wir dürfen von der Europäischen Union keine Wunder erwarten. Es handelt sich bei der Europäischen Union um ein politisches Konstrukt, um ein politisches Experiment, das noch immer am Anfang steht. Daher darf es uns auch nicht weiter überraschen, dass es Probleme gibt. Aber immerhin: Die Zivilgesellschaft hat in vielen Ländern Europas ein kräftiges Lebenszeichen gegeben und das sollte einen froh stimmen.

Sie plädieren für eine größere Rolle des Staates in der Wirtschaft - genau wie Jeremy Corbyn, der neue Vorsitzende der Labour-Partei. Ist der Staat - gerade in Europa - nicht ohnehin dominant genug?

Es gibt diesen klugen Satz: Steuern sind der Preis, den wir für die Zivilisation zahlen. Und der englische Philosoph Thomas Hobbes beschrieb in seinem 1651 erschienenen Buch "Leviathan" eine Welt ohne Regierung, ohne Staat, ohne Ordnung: Das Leben in so einer Gesellschaft sei "einsam, armselig, gemein, brutal und kurz". Dem ist wirklich nichts hinzuzufügen. Wir haben uns viel zu lange von so manchen Politikern einreden lassen, dass der staatliche Sektor zu groß sei oder der private Sektor immer alles besser könne. Dabei haben wir übersehen, dass der Staat heute viel wichtiger ist als früher. Zudem: Wir können uns heute einen starken Staat leisten. Was wir brauchen, ist ein besserer Staat mit einer besseren Regierung, nicht ein kleinerer Staat.

Sir Anthony Atkinson ist einer der bedeutendsten Ökonomen, der sich mit dem Thema der sozialen Ungleichheit beschäftigt. Er ist Professor in Oxford und an der London School of Economics. Bei seinem Aufenthalt in Wien hielt Atkinson die Rede zur Eröffnung des vor kurzem gegründeten Instituts zur Erforschung der sozialen Ungleichheit an der
Wirtschaftsuniversität Wien.