Über den eigentlichen Gegenstand der Normen, ihren Gehalt und ihre Bindungswirkung herrscht Unsicherheit.
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Wenn Anfang dieser Woche in Marrakesch der Migrationspakt angenommen wurde, dann hat ein ganz eigentümlicher völkerrechtlicher Normsetzungsprozess seinen (vorläufigen) Höhepunkt erreicht. Es gibt wenige Präzedenzfälle in der jüngeren Völkerrechtsentwicklung, in denen eine derartige Unsicherheit über den eigentlichen Gegenstand der Normen, über ihren Gehalt und über ihre Bindungswirkung bestanden hat, wie in der vorliegenden Situation.
Und dabei hat alles in großer Harmonie begonnen: 2017 schien sich ein überwältigender Konsens abzuzeichnen, wobei allein die USA außen vor bleiben wollten, was aber allgemein nur als weiterer Beweis für eine erratische Außenpolitik der Trump-Regierung interpretiert wurde, mit einer demonstrativ zur Schau getragenen, inhaltlich nur schwer deutbaren "America first"-Orientierung. Im Jahr 2018 kamen aber erste Zweifel auch in anderen Staaten auf, wobei Ungarn und Österreich die Wegbereiter dieser Trendumkehr darstellten. Auch diese Positionierungen wurden überwiegend innenpolitischen Ursachen zugeschrieben und die Distanz zum Migrationspakt als primär nach innen gerichtetes Signal gedeutet.
Breitere Basisdiskussion fehlte
Die kritischen Stimmen wurden aber immer mehr, wobei sich die Gegnerschaft nunmehr über den ganzen Erdball verteilt. Es ist dies bei weitem keine Mehrheit, aber es sind Staaten darunter, die in der internationalen Migrationspolitik von großem Gewicht sind, wie Australien. Die neueste Entwicklung besteht im Scheitern der belgischen Regierung an dieser Frage. In vielen anderen Staaten, wie beispielsweise in Italien, entzündet sich an dieser Frage eine intensive Auseinandersetzung, die ebenfalls zur Zerreißprobe für die Regierung werden kann.
Es ist hier nicht der Ort für eine detaillierte Darstellung der Für und Wider dieses Paktes. Dies wurde bereits an anderer Stelle in Angriff genommen und soll gegebenenfalls vertieft in einer wissenschaftlichen Abhandlung erfolgen.
Worauf hier aber kurz eingegangen werden soll, ist die Gestalt des Normsetzungsprozesses, der dem Migrationspakt zugrunde liegt und der ein vielsagendes Bild auf die Ausformung des modernen Völkerrechts und auf die Natur des völkerrechtswissenschaftlichen Diskurses wirft.
So muss man sich in erster Linie fragen, wie ein derartiges Dokument, das offenkundig grundlegende globale Weichenstellungen anstrebt und dabei klare Positionierungen vornimmt, die die Völker der Erde insgesamt betreffen, ohne breitere Basisdiskussion zustande kommen kann. Wenn eine Rückkoppelung mit der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erst dann erfolgt, wenn das Dokument fertig ausformuliert ist, und diese Diskussion offenkundig nur widerwillig geführt wird und gar nicht von den Urhebern des betreffenden Dokuments selbst initiiert worden ist, dann ist das eine Entwicklung, die bedenklich ist. Ist am Ende die vielfach propagierte Demokratisierung der Außenpolitik beziehungsweise der internationalen Politik nicht mehr als ein Schlagwort?
Im Rahmen der Ausarbeitung rein technischer Normen, wie etwa im internationalen Wirtschaftsrecht, ist es durchaus verständlich, dass diese Bestimmungen auf rein technischer Fachebene ausgearbeitet werden, wenngleich auch hier der Partizipationsanspruch der Zivilbevölkerung immer deutlicher zum Ausdruck gebracht wird. Bei Fragestellungen, wie jener der Migration, ist dieser elitäre, paternalistische Anspruch der besseren Einsicht des internationalen Beamtenapparats aber verfehlt. Es gibt wohl wenige Frage des Völkerrechts, hinsichtlich welcher eine so breit gefächerte Betroffenheit gegeben ist und in Bezug auf welche auch klar der Wille der Völker weltweit prononciert wird, mitzureden und mitzugestalten.
Aber auch in rein technischer, völkerrechtswissenschaftlicher Hinsicht wirft der Entstehungsprozess dieses Dokuments zahlreiche Fragen auf. Dies gilt allein schon für den Aspekt der Verbindlichkeit dieses Dokuments. Die nationale Völkerrechtswissenschaft hüllt sich dazu vielfach in Schweigen, und die anderen Stimmen sind kontrovers. Dabei mag es durchaus eine Mehrheit von Völkerrechtlern geben, die sich für die Unverbindlichkeit dieses Dokuments aussprechen und eine Verbindlichkeit seiner Normierungen auch für die Zukunft nicht erkennen können. Auf die naive Frage der Nicht-Völkerrechtler, weshalb dann überhaupt so intensiv um dieses Dokument gerungen wird, wissen sie aber keine überzeugende Antwort.
Wo waren die Völkerrechtler?
Ganz generell muss man sich die Frage stellen, wo die Völkerrechtswissenschaft war, als dieses Dokument ausgearbeitet worden ist. Von allen Rechtswissenschaftlern sind doch die Völkerrechtler jene, die die größte Politiknähe aufzuweisen haben. Weshalb ist hier auch national durch die Regierungen im Vorfeld kein Diskussionsprozess initiiert worden?
Auf viele, untechnisch klingende Fragestellungen der Zivilgesellschaft, die die elitäre Fach-Community in den ersten Monaten zuerst ignorierte und dann belächelte, wissen diese Experten nun keine Antwort, die auch auf fachlicher Ebene überzeugen würde. Unabhängig von der inhaltlichen, fachlichen Wertung des Migrationspaktes kann dieses Dokument als Beleg dafür in die Geschichte eingehen, dass der internationale Normsetzungsprozess - zumindest bei Fragen von breiter internationaler Relevanz - wohl grundlegend neu durchdacht werden muss.
Österreich kommt in diesem Kontext eine ganz besondere Rolle zu: Dieses Land hat Wesentliches dazu beigetragen, die Diskussion um den Migrationspakt anzustoßen, Fragen zu stellen, die nicht einfach respektive nicht mehr als populistisch abgetan werden können. Für Österreich ist nun auch eine besondere Verantwortung gegeben, diese Diskussion konsequent und sachlich fortzuführen, auf nationaler und internationaler Ebene. Letztlich könnte dadurch für Österreich auch ein großer Reputationsgewinn resultieren.
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