Islamforscherin über Vormarsch konservativer Kräfte, radikalisierte Jugendliche und warum wir mehr Daten über Flüchtlinge brauchen.
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"Wiener Zeitung": Ihr Buch, in dem Sie Ihre Forschungsarbeit präsentieren, trägt den Titel "Gott näher als der eigenen Halsschlagader. Fromme Muslime in Deutschland". Aber wer fällt überhaupt unter die Kategorie fromm?<p>Susanne Schröter: Fromm sind die Muslime, die einen großen Teil ihrer Freizeit mit religiösen Aktivitäten verbringen, für die Religion einen der vordersten, wenn nicht den vordersten Platz im Leben einnimmt.
<p>Kann man in etwa sagen, wie hoch der Anteil der Frommen in Deutschland ist?<p>Ganz genaue Zahlen wurden bisher nicht eruiert. Man schätzt aber, dass die Muslime, die organisiert sind, etwa in Moscheevereinigungen oder in islamischen Verbänden, rund 25 Prozent ausmachen.<p>
Wie unterschiedlich wird der Glaube in den einzelnen Moscheevereinigungen gelebt?<p>Die Unterschiede sind sehr groß. Die großen türkischen Verbände Milli Görüs, Ditib und auch der Verband Islamischer Kulturzentren sind sehr straff und hierarchisch geführte Organisationen. Die sufistischen Orden wiederum funktionieren nach dem Prinzip der charismatischen religiösen Führer, sie orientieren sich an einem Scheich. Und eine ganze Reihe von Moschen, etwa arabische, iranische oder auch afghanische, sind relativ ungebunden. Sie gehören keiner großen Organisation an und können ihre Orientierung schnell ändern. Je nachdem, wie sich der Vorstand gerade zusammensetzt, werden offene und liberale Gemeinschaften plötzlich salafistisch oder umgekehrt.<p>
Und die Besucher der Moschee tragen diese Kurswechsel mit?<p>In der Moschee gibt es unterschiedliche Flügel. Gerade bei vielen Jugendlichen greift derzeit doch ein sehr problematischer Islam um sich, während die Älteren oft moderater sind. Es kommt dann darauf an, welche Fraktion sich gerade durchsetzt.<p>Heißt das, die jungen Muslime radikalisieren sich momentan viel stärker als die älteren?<p>Ja, absolut. Der Psychologe Ahmad Mansour spricht mittlerweile von der "Generation Allah". Ein großer Teil der moslemischen Jugend findet derzeit einen sehr regeltreuen Islam attraktiv. Das ganze Leben orientiert sich dabei an den beiden Begriffen "haram", verboten, und "halal", erlaubt. Sie sind völlig besessen davon, für jede kleinste Handlung herauszufinden, ob sie erlaubt ist oder nicht. Die Älteren sind da viel entspannter.<p>Woher kommt dieser Trend?
<p>Der Islam ist eine globale Religion, in der Ideen grenzüberschreitend fließen - und weltweit ist dieser fundamentalistische Islam im Vormarsch. Viel tragen dazu auch finanzkräftige Staaten wie Saudi-Arabien oder Katar bei, die Religionsexport betreiben. Sie finanzieren Moscheen sowie Schulungsprogramme und senden Prediger aus.<p>Österreich hat mit dem neuen Islam-Gesetz versucht, die Finanzierung von Predigern aus dem Ausland zu unterbinden. Auch anderswo in Europa wird diskutiert, die Finanzierung von Moscheevereinen aus dem Ausland trockenzulegen. Ergibt das Sinn?<p>Sinn macht es dann, wenn man eine alternative Finanzierungsmöglichkeit für die Moscheen hat. In Deutschland ist es etwa im Moment so, dass die Imame entweder aus der Türkei kommen, also türkische Staatsbeamte sind, oder ein kleines Handgeld von den Moscheen bekommen. Aber wenn in Deutschland ausgebildete Imame tätig werden sollen, vielleicht auch mit einem Theologiestudium im Hintergrund, dann wollen diese auch ein ordentliches Gehalt beziehen. Und da muss man sich überlegen, wo dieses Geld herkommen soll. Die Moscheen selbst können das oft nicht tragen.
<p>Das heißt aber, dass in Deutschland - wie in Österreich - versucht wird, die Ausbildung von Imamen im eigenen Land zu fördern.<p>Ja. Bei uns wird Islamische Theologie an den Hochschulen gelehrt, von sehr interessanten Leuten, die einen Islam entwickeln, der absolut für unsere Demokratie taugt. Aber diese Gedanken von den Hochschulen werden in den Gemeinden nicht akzeptiert. Für die frommen Muslime, mit denen ich mich beschäftigt habe, ist diese Auslegung viel zu liberal. Sie nehmen den Koran wörtlich und orientieren sich auch ein Stück weit an einer Illusion des
7. Jahrhunderts. An den Universitäten hingegen findet eine historische Kontextualisierung statt, und es wird erklärt, dass bestimmte Suren eben nur zur Zeit ihrer Entstehung Sinn gemacht haben.<p>Spiegelt das einen globalen Wettstreit zwischen zwei Denkschulen des Islam wider?<p>Ja, und dieser Wettstreit ist in Westeuropa erst mit einer gewissen Verspätung angekommen. Im Nahen und Mittleren Osten, in Nordafrika oder auch Indonesien zeigt er sich schon länger. Auf der einen Seite stehen liberale, auf der anderen radikale Moslems. Und dazwischen bewegt sich die große Masse an Unentschiedenen.<p>Welche Seite hat in diesem Wettstreit die größeren Kapazitäten?<p>Die konservative Seite hat sehr viel mehr Geld. Sie wird ja auch von gewissen Staaten, etwa der Türkei oder arabischen Ländern, unterstützt. Hinzu kommt: Die Liberalen und Säkularen sind eher Individualisten, sie haben kein Bedürfnis, sich groß zu organisieren. Sie sind Bürger, die sich wie andere auch einfach mit ihrem Beruf und ihren Hobbies beschäftigen und keine große Angelegenheit aus ihrer Religion machen. In Verbänden organisieren sich vielmehr diejenigen, die ihre Religion und ihre Frömmigkeit auch noch zu einem politischen Gegenstand machen. Daher sind die etablierten Verbände eher konservativ.<p>Wie fließend sind denn die Übergänge vom Salafismus, der eine möglichst, strikte wortgetreue Auslegung des Koran fordert, zum Terrorismus oder zu den dschihadistischen Kämpfern, die nun nach Syrien ziehen?<p>Nicht jeder Salafist ist Dschihadist. Aber jeder Dschihadist ist Salafist. Das Problem ist, dass die Übergänge hier fließend sind und man nicht genau weiß, wann jemand aus dem salafistischen Lager für die Anwendung von Gewalt eintritt. So sagen die einen, Gewalt ist derzeit nicht legitim, die anderen, Gewalt ist legitim, und eine dritte Gruppe von Salafisten ist wiederum der Ansicht, dass Gewalt dann legitim ist, wenn etwa der Prophet Mohammed durch Karikaturen beleidigt wird. Viele Jugendliche sind jedenfalls der Ansicht, dass Muslime überall in der Welt unterdrückt werden und sie sich daher in einer permanenten Notwehrsituation befinden. Dieses Gedankengut ist beunruhigend, weil dadurch ein Teil der moslemischen Jugend in eine Fronthaltung gegen den Rest der Gesellschaft geht.<p>Was macht den Salafismus gerade für Jugendliche so anziehend?<p>Der Salafismus hat sich mittlerweile zu einer Popkultur entwickelt, mit eigener Sprache, Kleidung, Musik und mit eigenen Symbolen. Jugendliche können damit auch provozieren - wenn sie in der Öffentlichkeit mit Gesichtsschleier oder salafistischem Männergewand durch eine große Fußgängerzone gehen, stehen sie im Mittelpunkt. Dann war der IS, zumindest als er militärisch noch im Vormarsch war, mit seinen Erfolgsgeschichten sehr anziehend für junge Männer, die im Leben nicht sonderlich vorangekommen sind. Unter den IS-Kämpfern fanden sich sehr viele Schulabbrecher oder auch kleinere und größere Kriminelle, die sich dann als Helden oder Retter der Muslime feiern ließen. Zudem bietet der Salafismus scheinbar einfache Antworten, ordnet die Welt klar in Gut und Böse. Viele Junge Leute leiden ja darunter, dass die Welt so komplex geworden ist, sie ständig Entscheidungen treffen müssen und Gefahr laufen, Fehler zu machen. In einer salafistischen Gruppe muss man bloß den Befehlen eines Imams folgen, hat viele Freunde, erlebt viele Abenteuer und kommt sogar ins Paradies. Auf diese Propaganda sind viele hineingefallen. Selbst junge Mädchen hat man bis nach Syrien gelockt. Das lief dann über eine andere Strategie. Sie wurden mit der Geschichte geködert, dass sie dort ihren von Gott auserwählten Märchenprinz kennenlernen.<p>Welchem Bezug zur Mehrheitsgesellschaft sind Sie generell bei Ihren Forschungen begegnet?<p>Die meisten Gesprächspartner sahen sich eigentlich nicht als Deutsche, sondern doch viel eher als Marokkaner oder Türken. Ich fand es aber recht überraschend, dass viele von ihnen einen sehr positiven Bezug zu der Stadt, in der sie leben, hatten. Da ist für sie etwa Unmittelbares, das ist ihre Heimat genau so wie der Ort, von dem ihre Eltern und Großeltern herkommen. Aber: Gerade die frommen Leute verbringen den Großteil ihrer Freizeit in ihrer Moscheegemeinde, also nicht mit Nicht-Muslimen. Von den Großeltern über die Enkeln bis zu den Nachbarn kommen hier alle zusammen. Das sind kleine Mikrokosmen, die nach eigenen Regeln spielen. Und diese sind ganz anders als die der Mehrheitsgesellschaft. Da ist eigentlich wenig dagegen einzuwenden. Nur bleibt diesen frommen Muslimen dann die Mehrheitsgesellschaft fremd, an der sie auch vieles ablehnen.<p>Beispielsweise?<p>Dass Mädchen, Schülerinnen zu einer Party gehen können. Das ist ihnen unheimlich, und das finden sie auch sündhaft.<p>Sie haben sich sehr intensiv mit Integration beschäftigt. Wie weit kann diese in so einem konservativen Umfeld, in dem sie geforscht haben, überhaupt gelingen?<p>Die Gemeinden igeln sich ein und versuchen, einen Schon- und Schutzraum für ihre Mitglieder zu bilden. Man muss deshalb in dem Raum, in dem sich Kinder und Jugendliche begegnen, Integration zum Thema machen. Und das ist die Schule. Man muss Wissen über die verschiedenen Religionen sowie die Aufklärung bereitstellen und Toleranz einüben. Dafür ist derzeit zu wenig Platz. Ich fände ein Schulfach nicht schlecht, in dem die Kinder für die globale, pluralistische Welt, die uns umgibt und umgeben wird, fit gemacht werden. Der Mensch an sich neigt ja zum Homogenen, Pluralismus und Multikulturalität sind für jeden Einzelnen verdammt anstrengend, dafür muss man Ängste ablegen und sich Wissen aneignen. Und der einzige Ort, an dem das geschehen kann, ist die Schule.<p>Streben religiös-konservativen Verbände auch danach, sich in der Flüchtlingsarbeit zu engagieren?<p>Ja, manche konservativen Vereine wollen Gelder lukrieren und Kontrolle über die Flüchtlinge bekommen. Das halte ich für schlecht, das müssten staatliche Kräfte und zivilgesellschaftliche Organisationen übernehmen, die nicht primär religiös orientiert sind.<p>Welche Erkenntnisse lassen sich aus Ihren Forschungen für den Umgang mit Flüchtlingen gewinnen?<p>Zunächst einmal müsste die Betreuung für Flüchtlinge viel umfassender sein. Das ist aber derzeit allein aus personellen Gründen nicht möglich, es sind ja schon alle Sozialarbeiter absorbiert. Hier müsste aber viel mehr getan werden, denn mittlerweile zeigt sich ja, dass in Aufnahmeeinrichtungen viele Missstände herrschen. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist etwa ein Thema, seit so viele Flüchtlinge aufgenommen wurden. Aber es passiert einfach nichts, weil die Behörden vollkommen überfordert sind. Das ist ein extremer Missstand: Man hat sehr viele Leute ins Land geholt und sieht sich dann außerstande, tatsächlich dafür zu sorgen, dass sie vernünftig hier ankommen, für sie Sicherheit herrscht und sie auch etwas von unseren kulturellen Gepflogenheiten mitbekommen. Zudem brauchen wir viel mehr Daten über die Flüchtlinge. Dann würden wir viel besser wissen, was sie benötigen, und es könnten viele Konflikte vermieden werden. Derzeit werden aber unter fadenscheinigen Gründen Zugänge verweigert, weil man befürchtet, dass dann die Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen steigt. Dabei ist Transparenz ganz wichtig, und wir müssen Flüchtlinge auch nicht zu Heiligen stilisieren. Das passiert im politischen Diskurs relativ häufig, wenn etwa gesagt wird, diese Schutzsuchenden sind alle gekommen, weil sie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit suchen. Das ist doch Unfug, es handelt sich um unterschiedliche Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen auf die gefährliche Reise nach Europa gemacht haben. Es bringt doch nichts, den einen Flüchtling zu konstruieren und dann in Panik zu verschleiern zu versuchen, wenn man feststellt, genauso wie Demokraten sind auch Islamisten, Rassisten und Sexisten unter ihnen.<p>Es bräuchte also eine offenere Diskussion . . .<p>Jedem Problem, das auf dem Tisch liegt, kann man sich stellen. Aber wenn man so tut, als ob ein Problem nicht existieren würde, vergeht wertvolle Zeit, bis es so dominant geworden ist, dass man nicht mehr wegschauen kann. Ich glaube, dass der Erfolg von rechtspopulistischen Parteien wie der AfD auch daran liegt, dass keine Offenheit herrscht und sich Bürger fragen, was denn noch alles hochkommt.<p>Wo zeigt sich das etwa?<p>Erst kürzlich haben Menschenrechtsorganisationen darauf hingewiesen, dass orientalische Christen in Aufnahmeeinrichtungen Gewalt ausgesetzt sind. Man weiß aber nicht genau, wie gehäuft das passiert. Mit einer Erhebung wären die Daten recht schnell am Tisch, aber das wird nicht gemacht. Auf der einen Seite heißt es, das sind alles Einzelfälle, auf der anderen Seite sagen wiederum manche Organisationen, dass sich hier eine Riesenkatastrophe abspielt. Wie will denn da ein normaler Bürger noch wissen, wie es sich tatsächlich verhält?<p>Fromme Muslime, so steht es in einem Koranvers, sind "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Sie widmen sich in besonderem Maße ihrer Religion und versuchen, die Gebote Gottes im Alltag einzuhalten. Susanne Schröter hat intensiv zu diesem konservativen Segment des deutschen Islams geforscht und dafür von 2011 bis 2015 in der deutschen Stadt Wiesbaden verschiedenste Moscheegemeinschaften besucht. Dazu zählten: Milli Görüs, ein türkischer Verband, bei dem der deutsche Verfassungsschutz antidemokratische und islamistische Tendenzen festgestellt hat. Der Verein Ditib, der der Kontrolle durch die türkische Regierung untersteht. Der Verband Islamischer Kulturzentren, der einen sunnitischen Islam mit mystischer Prägung vertritt. Die aus Indien stammende Ahmadiyya. Sufistische Gemeinschaften, die asketisch und mystisch orientiert sind. Sowie einzelne Moscheegemeinschaften, die nicht in großen Verbänden organisiert sind. Schröter sprach für ihre Arbeit mit 130 Muslimen sowie mit Verantwortlichen aus Politik, Schulen, Jugendarbeit, Kirchen, Polizei und Verwaltung. Sie gewann somit einen tiefen Einblick in das Leben und die Gedankenwelten streng gläubiger Muslime. Darüber hinaus untersuchte sie, mit welchen Programmen sich Wiesbaden seit Jahrzehnten um Integration bemüht.
Susanne Schröter: "Gott näher als der eigenen Halsschlagader - Fromme Muslime in Deutschland"
Verlag Campus 2016, 36 Euro
Susanne Schröter ist Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. In der von der renommierten Ethnologin geleiteten Forschergruppe werden kulturelle und politische Transformationen in islamisch geprägten Gesellschaft und in Gesellschaften mit starken islamischen Minderheiten untersucht. Regionale Schwerpunkte sind dabei Südostasien, Nordafrika und Deutschland.