Unterstützt werden Unternehmen vom Marktstand bis zur Kaffeegenossenschaft.
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Managua. Vor der Markthalle in Nicaraguas Hauptstadt Managua dröhnen Latinorhythmen aus den Boxen, während daneben eine Frau bunte Kindersandalen aus Schuhschachteln auf ihren Verkaufsstand schlichtet.
Im Inneren der Halle des Marktes Huembes Roberto läuft ein Huhn mit den Flügeln schlagend unter einem Verkaufstisch mit Kochbananen umher, und José Dolores Valverde Vasquez rinnt in der drückenden Hitze der Schweiß von der Stirn. Der 46-Jährige verkauft von 6 bis 18 Uhr Heilpflanzen und Kräuter - und das sieben Tage die Woche.
Mit einem Mikrokredit in Höhe von 1800 US-Dollar hat er seinen Stand aufgebaut, auf dem er Heilkräuter und -pflanzen von Aloe Vera bis Kamille verkauft. Von den 400 Dollar Gewinn pro Monat muss er zehn Personen ernähren. "Vorher habe ich mit meiner Familie in einer Hütte gewohnt. Jetzt konnte ich ein Haus bauen", sagt Valverde Vasquez.
Ohne Chance auf Kredit bei einer normalen Bank
Ein paar Gänge weiter betreibt Jocé Miguel Marín Gurdián eine WC-Anlage und einen Kopier-Shop, in dem er auch Süßes und Telefonwertkarten verkauft. Umgerechnet 20 bis 25 Cent verlangt der 60-Jährige für die Toiletten-Benützung - die Kunden haben die Wahl zwischen günstigerem dünnen und teurerem dicken Klopapier. Begonnen hat er mit einem Mikrokredit in Höhe von 100 US-Dollar über eine Laufzeit von drei Monaten, aktuell hat er 2000 Dollar für elf Monate beantragt. Damit hat der Unternehmer von 8 auf 17 Toiletten erweitert und beschäftigt drei Mitarbeiter. 1400 Dollar bleiben ihm monatlich für seine Familie. "Ich fühle mich nun erleichtert und spüre nicht mehr diesen Druck. Ich habe ein Haus gebaut, und nun kann ich es mir leisten, Medikamente zu kaufen", erzählt er stolz.
Marín Gurdián zahlt 3,2 Prozent Zinsen pro Monat an die Mikrokreditorganisation FDL (Fonds für lokale Entwicklung). Kräuterhändler Valverde Vasquez berappt drei Prozent Zinsen monatlich. Trotz der hohen Rate sei das Angebot besser als bei Banken, sagt María Ines Martinez, Chefin eines FDL-Lokalbüros in Managua: "Unsere Klienten bekommen bei einer Bank keinen Kredit."
Durchschnittlich zahlen Mikrokreditnehmer - bemessen am Risiko ihres Unternehmens - 26 bis 32 Prozent Zinsen pro Jahr. Umgerechnet 900 US-Dollar werden durchschnittlich als Mikrokredit vergeben. Voraussetzung ist, dass die Geschäftsidee bereits sechs Monate lang in der Praxis funktioniert hat. Zusätzlich holt FDL Referenzen von Nachbarn ein, um die Wahrscheinlichkeit der Rückzahlung abschätzen zu können.
Unter den 21 Organisationen, die der Mikrofinanzierer Oikocredit als Partner im ärmsten Land Mittelamerikas hat, ist neben FDL auch Prodecoop mit 39 lokalen Kaffee-Genossenschaften und 2300 Bauern. Am Prodecoop-Sitz in Estelí, nördlich von Managua, werden die Kaffeebohnen getrocknet und an Röstereien, vor allem in den USA und Europa, geliefert. Für die Bauern und deren Familie bleiben rund 170 Dollar pro Monat zum Leben. Die Kaffee-Ernte hat gerade begonnen - und die Bauern bangen um die Preise. Bei niedrigen Kaffeepreisen können die Genossenschaften den Kredit nicht rechtzeitig zurückzahlen; deshalb wollen sie ihre Produktpalette nun um Honig, Orangen, Schweine oder Hühner erweitern.
"Mikrofinanzbranche hat ihr glamouröses Image verloren"
Die Branche muss in dem Sechs-Millionen-Einwohner-Land ihren Ruf wiederherstellen: "Die Mikrofinanz hat ihr glamouröses Image verloren", sagt Luis Lacayo Debayle, Vizepräsident von FDL. Das liegt einerseits an profitorientierten Mikrofinanzunternehmen, die die Branche in Verruf brachten, andererseits weigerten sich in Nicaragua ab 2008 viele Mikrokreditnehmer, ihre Raten zurückzuzahlen. Üblicherweise werden ein bis zwei Prozent der Mikrokredite nicht zurückgezahlt, während der Bewegung "No Pago" ("Ich zahle nicht") waren es rund elf Prozent. Schuld hatten aber auch die Kreditgeber, sagt Fernando Guzmán Cuadra, Präsident von Nicaraguas Verband der Mikrofinanzinstitutionen (Asomif): "Die Mikrokreditinstitutionen haben ihre Disziplin bei der Kreditvergabe verloren und damit zur höheren Kreditausfallrate und Überschuldung der Klienten beigetragen." Das habe viele Investoren vertrieben, und die ausländischen Geldgeber kommen nun nicht so schnell wieder zurück.
Die Zahl der Mikrofinanzinstitutionen ist nach der "No Pago"-Bewegung von 35 auf 20 geschrumpft, Kredite in Millionenhöhe waren verloren. Derzeit wird ein neues Mikrofinanz-Gesetz verhandelt, das strengere Regeln und mehr Transparenz vorsieht.
Sind Mikrokredite ein wirksames Mittel gegen Armut? Mit einem Fragebogen erhebt Oikocredit in einem Pilotprojekt, wie sich die Lebensbedingungen der Mikrokreditnehmer entwickeln. Zu den zehn Fragen gehört etwa, ob es eine Toilette oder einen Fernseher im Haushalt gibt.
Oikocredit-Österreich-Vorstand Günther Lenhart: "Mikrokredite sind ein Puzzlestein im Kampf gegen die Armut." In Nicaragua habe die Regierung verstanden, dass die Mikrofinanz ein Verbündeter im Kampf gegen Armut sei, so Guzmán Cuadra: "Armut zu bekämpfen ist aber nicht die alleinige Verantwortung der Finanzinstitutionen, es braucht auch Bildung, Infrastruktur und die Regierung dazu."
Wissen: Mikrokredite
Mikrokredite unterscheiden sich von Spenden, betont der Mikrokreditfinanzierer Oikocredit: Wer in Oikocredit investiert, ist kein Almosengeber, sondern ein Anleger. Bei Oikocredit können Beträge ab 200 Euro angelegt werden, die Dividende beträgt zwei Prozent. Das Geld kann jederzeit behoben werden. Als Jahresbeitrag werden 20 Euro fällig. Oikocredit unterstützt mit 516 Millionen Euro Mikro- und Projektkredite in 70 Ländern und erreicht 26 Millionen Menschen. In Österreich stieg das Anlagenvolumen von Oikocredit in den ersten drei Quartalen 2012 um 21,5 Prozent auf 38,1 Millionen Euro, die Anlegerzahl wuchs um 19,2 Prozent auf 3227.
www.oikocredit.org