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Milliardenfache Herausforderung

Von Holger Rust

Reflexionen

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Hongkong, Herbst 2011: Ob das Schild, das einen "netten Blick auf China" versprach, noch an diesem Baum an der landseitigen Küste von Macao hängt, habe ich diesmal nicht überprüft. Es wäre allerdings schade, wenn das kleine Zeichen der großen Veränderungen aus der Geschichte verschwunden wäre. Denn damals, als ich es aufgenommen habe (siehe Foto), am 17. September 1977, war Macao einer der vorgeschobenen Beobachtungsposten, von denen sich ein Blick hinüber werfen ließ, in dieses Reich der milliardenfachen Herausforderung.

Lasst uns genießen!

Es war erst fünfeinhalb Jahre her, dass Richard Nixon seine spektakuläre Reise nach China absolviert hatte und Annäherungen an den Westen vorsichtigst angedeutet worden waren. Verschwörungstheoretiker warnten damals davor, dass diese zunächst bilateralen Kontakte für die Chinesen nichts anderes bedeuteten, als einen weiteren Schritt auf dem Weg zur kommunistischen Weltrevolution. Hongkong und mithin Macao (und seine Spielbank) standen für alles, was die Freiheit lebenswert machte: für Konsum, Individualismus, wunderbare Markenwelten und Statussymbole.

Touristen aus aller Welt jagten die preiswerten Ausgaben jener Marken, die bei ihnen daheim und zusehends auch in Japan produziert wurden, hier aber billiger waren: Prada, Gucci, Rolex, Canon, Calvin Klein, Nikon und Chanel. Es waren die käuflichen Beweise der Überlegenheit des westlichen Kapitalismus, ebenso wie die schon zu dieser Zeit verstopften Straßen der für ihre wirtschaftlichen Ansprüche viel zu kleinen Metropole, trotzig am Rand des Riesenreiches gelegen, dem sie dann 20 Jahre später laut Vertrag zugeschlagen werden sollte.

Zwanzig Jahre! Das klingt nach langer Dauer, doch die Furcht vor dem Verlust der Eigenständigkeitprägte schon damals die Mentalität Hongkongs - allerdings in durchaus optimistischer Manier: Lasst uns genießen, lasst uns verdienen, lasst uns konsumieren, solange es noch geht und nicht kommunistische Gleichmacherei ihre Schatten auf dieses Juwel am Pearl River-Delta wirft. Denn irgendwie hatte die Erfahrung gelehrt, dass zwanzig Jahre kurz sein können. Sehr kurz.

Nun ist auch 1997 schon anderthalb Jahrzehnte vorüber, wir können leibhaftig in die eigene Zukunft schauen, weil wir in ihr leben - und was sie zeigt, ist erstaunlich: Nicht Hongkong ist so geworden, wie man damals befürchtete, im Gegenteil: China ist in weiten Teilen so geworden, wie Hongkong damals war, und es ist auf dem Weg, das irdische Konsumparadies zu perfektionieren.

Denn allein das, was rund um das Pearl River Delta bis 2020 geplant ist, stellt alles in den Schatten, was an niedlichen Industrieparks und Gewerbezonen rund um die Städte in Europa entstand und entstehen soll: 120 Millionen Menschen sollen hier unter den besten Bedingungen arbeiten, wohnen und leben. Sollen eine Verkehrsinfrastruktur benutzen, die ökologisch wegweisend ist. Sollen Zukunft erleben, die Fortsetzung und Optimierung dessen, was man im Vorzeige-Biotop Shanghai zuerst einmal vorsichtig ausprobierte, ein Experiment, das nie auf Rückholbarkeit angelegt war. Wie scheinbar selbstverständlich das alles vor sich ging! Und wie schnell! Als hätte es nie etwas anderes gegeben als diese Superlative in Architektur, Konsum und Mobilität.

Shanghai, Herbst 2011

Zwei Stunden Flug vom neuen Airport auf Hongkongs Insel Lantau zum Pudong Airport vor den Toren Shanghais. Zwei Stunden, zehn Minuten mit dem Taxi vom Pudong Airport zur South Maoming ins Zentrum der ehemaligen französischen Konzession, Freitagnachmittag, rund 40 Kilometer. Wir glauben Staus zu kennen, auf der Südosttangente Wiens, im abendlichen Paris, auf der deutschen A 7 vor dem Hamburger Elbtunnel in Richtung Süden bei Ferienende. Wir glauben, die härtesten Prüfungen bei einer Taxifahrt in Athen oder Neapel bestanden zu haben. Alles sehr pittorekse Vorführungen. Wie man einen Stau durch anarchische Fahrweisen perfektionieren kann, das merkt man in dieser Stadt, in der man die Termine für geschäftliche Besprechungen sehr geschmeidig anlegen muss: "Wir treffen uns am Nachmittag!"

Ein Tag Erholung im historischen JinJiang-Hotel und dann zur Eingewöhnung auf der Nanjing Road in Richtung Bund, vorbei an einer unendlichen Kette westlicher Marken-Shops, in chinesischen Schriftzeichen angepriesen, lustvoll frequentiert von einer globalen Masse von Käuferinnen und Käufern, die hier suchen, was sie immer schon suchten und fortwährend suchen werden: was zu Hause teuer ist - und nun auch hier produziert wird.

Dazu eine utopische Architektur, himmelstürmend wie in Manhattan oder Downtown Chicago, aber doch sichtlich bestrebt, die chinesischen Traditionen aufzunehmen, anders als in der ersten Phase der architektonischen Verwestlichung in den 1920er und 30er Jahren am Bund, der gegenüber der emblematischen Skyline auf der Pudong-Seite des Flusses mit dem Fernsehturm und den High Rises in augenfälligem Kontrast liegt.

Allgegenwärtige Staus

An dieser Stelle mit dem Postkarten-Blick, in diesem Getümmel von vorwiegend chinesischen Touristen lässt sich ermessen, was es heißt, in einem Land von 1,3 Milliarden Menschen zu leben, mit 86 Städten, die jeweils über fünf Millionen Bewohner haben, in einer Stadt mit derzeit rund 23 Millionen Einwohnern, die auch jene Geschichte wieder entdeckt, die sie schon immer zu einem Anziehungspunkt für westliche Fantasien gemacht hat.

Dort, wo sich die französische Konzession erstreckte, kann man stundenlang durch platanengesäumte Straßen und Gassen flanieren. Koloniale Architektur verdichtet sich mit geschlossenen chinesischen Quartieren zu einem pittoresken Ensemble. Es gibt Schneiderläden, Marken-Shops, französische Weine und chinesische Markthallen mit den seltsamsten Angeboten, Sterne-Restaurants mit neuer chinesischer Küche. Die Flaniermeilen werden immer wieder überkreuzt von Trassen neuer Hochstraßen, die aber auch nichts nützen. Es gibt, wie gesagt, Staus zu jeder Zeit, jeden Tag, überall. Wohin führt das?

Die Zukunftsausstellung im Museum für Stadtplanung gibt keine klare Antwort. Als Zukunft feiert sich hier alles, was geschehen ist und was erreicht wurde. Die Zufriedenheit ist ebenso offensichtlich wie die Vorstellung, dass alles so weitergeht. Und dies vor dem Hintergrund einer Ausstellung im obersten Stockwerk über den "langen Marsch", mit Wandzeitungen, "Cartoons" und Tableaus, auf denen die gloriose Zukunft eines ehedem allein seligmachenden Kommunismus in maoistischer Inszenierung ausgebreitet wird.

Sichtbar ist aber auch, dass China die ökologischen Notwendigkeiten entdeckt. Aber man hat den Eindruck, dass nicht nur Nachhaltigkeit und Lebensqualität, frische Luft und sauberes Wasser diese Pläne bestimmen, sondern auch die Furcht, dass es irgendwann einmal - im buchstäblichen Sinne - nicht mehr weitergeht. Denn allmählich erstickt der Autoverkehr die Errungenschaften dieser Moderne, dieses Vehikel der individualistischen Wendung einer Massengesellschaft - eine unaufgelöste Dialektik.

Die Kunst reagiert darauf. Sie versucht Antworten, die man aber selbst deuten muss. Am besten zu besichtigen in einer kleinen Kolonie am Rande der Innenstadt, nach ihrer Adresse an der Moganshan Road 50 "M 50" benannt, ein ehemaliges Industrieareal, das der (sorgsam beobachteten) Avantgarde überlassen wurde. Natürlich wird auch der gängige Publikumsgeschmack bedient. Und manche Stilübung verrät den Wunsch, den Anschluss an die vergangenen Jahrzehnte der europäischen und amerikanischen Kunstszene zu finden: Informel, vor allem aber Pop-Art und eine schreiend bunte Interpretation japanischer Mangas sind zu sehen.

Dennoch werden auch Zweifel formuliert und künstlerisch thematisiert: die Zerrissenheit einer alle Sinne beanspruchenden Konsumgesellschaft und ihrer technizistischen Utopie des höheren, weiteren, schnelleren Seins.

Beijing, Herbst 2011

Ganz so schnell wie geplant fegt der auf einer Stelzentrasse geführte Hochgeschwindigkeitszug nicht mehr von Shanghai nach Beijing. Nach einem Unfall hat man die Geschwindigkeit von 450 auf 300 km/h reduziert. Trotzdem ist es beeindruckend: 1300 Kilometer in 4 Stunden 35 Minuten. Der Zug verlässt den gigantischen Bahnhof Shanghai Hongqiao auf die Sekunde genau und erreicht Beijing South in der avisierten Zeit, ebenfalls auf die Sekunde. Zeitschriften liegen aus, allerdings nur auf Chinesisch, lesen kann man sie also nicht. Braucht man auch nicht: Denn alles, was drinsteht, kennt man von Dutzenden Magazine dieser Art, wie sie in den Hotel-Lobbies ausliegen: Deutsche Premium-Autos, Schweizer Uhren, französische Parfums, Luxus-Marken und -Konsum.

Ein Eindruck, der sich auch in Beijing nicht verflüchtigt, auch wenn diese Stadt völlig anders ist als Shanghai - grauer, weitflächiger. Viele der Hochhausbauten erscheinen älter. Und eine Reihe von originären Vierteln bleibt anscheinend erhalten, die Hutongs mit ihrem kleinbürgerlichen Leben gleich neben gigantischen Straßenzügen wie der Chang’an. Doch das Statement der modernen Selbstbehauptung gegenüber einer westlichen Welt, die zusehends Zweifel an ihrer Tradition formuliert, und der globale Anspruch manifestieren sich unübersehbar im Alltag und höchst offiziell.

Zwei Ausstellungen im Chinesischen Nationalmuseum zeugen in diesem Herbst davon: die eine zum Zeitalter der Europäischen Aufklärung (auch Thema in den internationalen Schulen, wie wir hören). Die andere über die italienische Modemarke Bulgari. Das ist keine Ausstellung über die Verwerflichkeit oder Zerrissenheit der Konsumgesellschaft, sondern über "125 Years of Italian Excellence". Und wie man bald merkt, eine selbstverständliche Inszenierung des guten Lebens.

Zwei Blocks weiter, nur ein kurzer Weg durch die Unterführung hinüber in die auf die andere Straßenseite der Chang’an Avenue, vorbei am Grand Hotel Beijing zur Wangfujing, findet das Festival der Weltmarken statt. Eine Art Gebetsmühle ist aufgebaut. Auf den Rollen aufgedruckt sind: Prada, Gucci, Boss, Chanel, Calvin Klein, Yves St. Laurent und Rolex. Das Wort "Welt" ist wichtig. Denn dies ist das Land, dem die Welt Reverenz erweist. Kein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht über irgendetwas schreiben, was sich in Beijing und im gesamten Reich der Mitte im Weltmaßstab abspielt, vom Treffen der "World Photographers" bis hin zur Dependance des "World Ecenomic Forum" in Dalian in der Provinz Liaoning im Nordosten des Landes.

Touristen von dort und aus Hunderten anderer Provinzorte, die ihr Pflichtpensum schon absolviert haben und sich durch die "Verbotene Stadt", die Stätten der letzten Kaiser, geschoben haben, lassen sich vor diesem Monument der Konsummoderne fotografieren und inspirieren. Zahlen werden sie die Statussymbole des neuen China mit Geldnoten, die das Porträt Maos tragen, a really nice view of China, dreieinhalb Jahrzehnte später.

Die Macht ist die Initiatorin und die Nutznießerin dieses Idylls, jedenfalls in der breiten Bevölkerung. Sie genießt still und baut weiter an dem neuen Konfuzianismus, der nur ein Motto kennt: Werde reich und reicher - und zeige es der Welt. Und sie residiert gleich neben der alten Verbotenen Stadt, in der neuen Verbotenen Stadt, Zhongnanhai, so genannt nach zwei Seen, dem mittleren (Zhonghai) und dem südlichen (Nanhai): Idyllisch, wie es durch den Gitterzaun auf der Wenjin Jie an der nördlichen Begrenzung dieses Areals aussieht; es wäre ein hübscher Rückweg aus dem Trubel der alten Verbotenen Stadt, nur leider nicht zugänglich, nicht einmal Fotografieren ist erlaubt.

Der Zutritt für diejenigen, die Zutritt haben, erfolgt von der Chang’an gegenüber des westlichen Teils des Tian’an men-Platzes. Zhongnanhai ist die Schaltzentrale jener seltsamen Synthese aus kommunistischer Idee und dem Gück durch Konsum. Diese eigenartige Konfrontation der Ideologien hat der Künstler Ai Wei Wei jüngst in "Newsweek" scharf analysiert: Die Ruhe, die mit der Idee des sozialen Aufstiegs durch Konsum und noch mehr Konsum symbolisch erkauft wird, gleicht jener Situation, die 1968 dem American Way of Life von den Konsumkritikern vorgehalten wurde: Repressive Toleranz.

Aber wir sollten nicht vergessen, dass dies einen großen Teil unseres eigenen Reichtums begründet. Und dass sich die Sicherung unseres Reichtums auf die Hoffnung gründet, dass das, was in Hongkong, Shanghai und Beijing zu besichtigen ist, und was Hunderte anderer Millionenstädte prägt, sich weiter und weiter fortsetzt - und letztlich eine neue Form der (zumindest in der Erfüllung des Standardpakets des mittelständischen Konsums) klassenlosen Gesellschaft erzeugt. Und auch diese Einsicht provoziert die Frage: Ist das die Richtung, in die alles geht?

Beijing-Frankfurt

Dass eine Antwort auf diese Frage grotesk ist, lässt sich leicht an dem Airbus 380 illustrieren, mit dem wir zurückfliegen - einem neuen europäischen Flugzeug, das den neuen Flughafen von Beijing, einen architektonischen und technischen Superlativ, der sich in jeder Ecke selbst zelebriert, mit knapp 500 Menschen an Bord verlässt.

Beides - dieser Flughafen und dieses Flugzeug - wäre vor 35 Jahren eine unglaubliche Vorstellung gewesen. Ebenso wie das, was sich in China ereignete, und das, was sich in Europa ereignete. Und das, was sich weiter ereignen und den Status nach den nun wiederum 35 nächsten Jahren bestimmen wird, wenn wieder einer in einem unglaublichen Transportmittel sitzt und ein altes Foto betrachtet. Die Antwort bleibt also offen. Das Essen kommt. Was für den Augenblick auch keine schlechte Perspektive ist.

Holger Rust, geboren 1946, ist Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Wirtschaft, Karriere an der Universität Hannover, Publizist und ständiger Glossist im "extra" ("diarium").