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Millionen Türken unter Hausarrest

Von Claudia Steiner

Politik

Millionen Türken sind am kommenden Sonntag eingesperrt - von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends herrscht Ausgangssperre. Der Grund: eine Volkszählung. 950.000 Zähler werden im ganzen Land von Tür zu Tür ziehen und den Menschen 43 Fragen stellen.


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Neben dem Alter und dem Geburtsort fragen die Zähler unter anderem nach dem Familienstand, der Zahl der Kinder, dem Familienoberhaupt, der Ausbildung, dem Beruf und der Wohnungsausstattung. Fragen nach der Muttersprache oder der Religion, die Aufschlüsse über ethnische oder religiöse Minderheiten geben könnten, sind dagegen nicht vorgesehen.

"Zähl-Terror", wetterte die Zeitung "Sabah". Bereits bei der Volkszählung im Jahr 1997, bei der knapp 63 Millionen Menschen erfasst worden sind, versprachen die Behörden, dass nun zum letzten Mal eine Ausgangssperre notwendig sei und die Bevölkerung künftig mit Hilfe von Computern erfasst werden könne. Dieses Mal soll es nun wirklich das allerletzte Mal sein, beteuern die Behörden. Die vollständigen Ergebnisse der 14. Volkszählung sollen nach Angaben des Staatlichen Statistischen Instituts in spätestens 18 Monaten vorliegen und unter anderem als Grundlage für Investitionen im Gesundheits- und Bildungsbereich dienen.

Bereits vor Wochen hat ein erbitterter Kampf und ein heftiges Werben um Einwohner begonnen, denn mehr Menschen bedeuten für die Städte und Dörfer mehr Geld. Manche Orte versuchen, die Leute mit Vergnügungsveranstaltungen zu locken: Der Ort Gümüshane verspricht am Samstagabend ein großes Konzert und bittet die jungen Männer, am Zähltag doch bitte auch gleich ihre Braut mitzubringen. Im ostanatolischen Dadaskent bei Erzurum appelliert man dagegen an die Gläubigen: "Diejenigen, die Allah lieben, verlassen Dadaskent nicht." Andere Städte sollen einfach abgeriegelt werden: In Giresun sollen die Ausfahrtsstraßen abgesperrt werden, die Zufahrtsstraßen sollen dagegen offen bleiben.

In Ankara droht die Verwaltung Strafen an: Einwohner, die sich am Zähltag nicht an ihrem Wohnort aufhalten, müssten künftig 50 Prozent mehr für Wasser und einen Zuschlag für Erdgas bezahlen. Damit den Behörden auch kein "Zähl-Flüchtling" durch die Lappen geht, sollen Nachbarn die "Flüchtlinge" bei einer Telefon-Hotline melden. Im zentralanatolischen Kirikkale geht man noch weiter: Die Verwaltung will "Zähl-Flüchtlingen" das Wasser abdrehen und den Müll nicht mehr abholen. Innenminister Sadettin Tantan gingen die Tricks und Drohgebärden der Stadtverwaltungen zu weit. In einem Rundschreiben forderte er die Verwaltungen auf, sich an die Gesetze zu halten.