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Minenfelder mitten in der EU

Von Martyna Czarnowska, Nikosia

Europaarchiv

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Anastasia wird nicht rüberfahren. "Im eigenen Land den Pass herzeigen zu müssen", kommt für sie nicht in Frage. Dabei hat auch sie Besitz in Famagusta, einer Hafenstadt im nördlichen Teil Zyperns. Dieser ist seit 1974 von türkischen Truppen besetzt, seit 1983 nennt er sich "Türkische Republik Zypern", anerkannt nur von der Türkei. Als die Truppen einmarschierten, war Anastasia acht Jahre alt. Die Ferien hatte sie stets bei ihrer Großmutter verbracht. Vor einigen Jahren hat sie das Haus, nun ein Restaurant, auf einem Video wieder gesehen. Hinzufahren und dort einzukehren fiele ihr nicht ein. "Im eigenen Haus fürs Essen zahlen?" Unvorstellbar.

Ähnlich wie sie denken einige griechische ZypriotInnen. Über 160.000 wurden vor 30 Jahren vertrieben, ließen Haus und Hof zurück. Seit April sind die Grenzen zwar wieder - für Tagesausflüge - geöffnet. Den Pass herzuzeigen würde aber bedeuten, den "Staat" Nordzypern anzuerkennen.

Doch die Mehrheit lässt sich nicht davon abhalten, in den Norden zu reisen - aus religiösen Gründen (viele bedeutende Kultstätten der orthodoxen Kirche befinden sich im Nordteil) oder um ihre Häuser wiederzusehen. Umgekehrt gehen auch viele türkische ZypriotInnen in den Süden, erstmals seit 30 Jahren können einige ihre Familie oder Freunde im anderen Teil des Landes besuchen. An die 8.000 haben drüben Arbeit gefunden. Rund zwei Millionen Grenzübertritte wurden bis Ende November gezählt, durchschnittlich 5.000 Menschen gehen täglich über die Demarkationslinie, die sich quer durch Zypern zieht.

Die Wunden der Ereignisse von 1974 sind nicht verheilt. Ein Viertel der Bevölkerung wurde damals zu Flüchtlingen im eigenen Land. Griechische ZypriotInnen flohen in den Süden, türkische in den Norden. Tausende Menschen gelten bis heute als vermisst. Rund 30.000 türkische Soldaten sind immer noch in Nordzypern stationiert. Mittlerweile werden die türkischen ZypriotInnen auch im Norden zu einer Minderheit. Viele sind emigriert, und die systematische Ansiedlungspolitik der Regierung von Rauf Denktash ließ die Zahl der Einwanderer-Innen aus Anatolien auf etwa 115.000 Menschen wachsen. Rund 80.000 türkische ZypriotInnen verfolgen das mit wachsender Besorgnis. So wird das jedenfalls auf der griechischen Seite dargestellt. Auf der türkischen Seite höre ich: "Die Griechen übertreiben." Es seien vielleicht 70.000 türkische SiedlerInnen da, leben hier seit vielen Jahren, sind unsere Nachbarn und legale EinwohnerInnen Zyperns.

Unsere Forderung: Türkische Truppen und Siedler raus aus Zypern" meint hingegen die Lapithos Flüchtlingsvereinigung. Das Plakat prangt über der Polizeistation vor dem Grenzübergang auf der griechisch-zypriotischen Seite. Menschen - einige mit ihren Einkäufen in Plastiksäcken in der Hand - gehen in Gruppen oder vereinzelt daran vorbei. Das Plakat beachten sie kaum, auch nicht den kleinen Stand, wo T-shirts mit UN-Logos oder Aufrufen zum Frieden angeboten werden. Auf der asphaltierten Straße, vorbei an verfallenen Villen und dem Ledra Palace, einem imperialen Prachtbau, in dem eines der renommiertesten Hotels Zyperns untergebracht war und nun die UN-Truppen stationiert sind, kommen sie in den türkischen Teil. Wieder empfängt sie ein Plakat: "Türkische Republik Nordzypern AUF EWIG". Zwischen der Straße und der im 16. Jahrhundert erbauten venezianischen Festungsmauer, die die Altstadt sternförmig umschließt, erstreckt sich die UN-Pufferzone. Das Arabahmet-Viertel, das auf der türkischen Seite die Mauer überragt, war einst eine begehrte Wohngegend, hohen FunktionärInnen und reichen Bürger-Innen vorbehalten. Nachdem Nikosia in zwei Teile geschnitten wurde, verfiel es zunehmend. Im Rahmen des "Nicosia Master Plan" und mit internationaler Finanzhilfe soll es wiederbelebt werden.

Revitalisieren ließe sich so einiges in Nordzypern. Durch die langjährige politische und wirtschaftliche Isolation steht das Land am Rand des Ruins. Obwohl die Türkei in den letzten zehn Jahren ihre Aufwändungen für Nordzypern auf 200 Mill. Dollar jährlich verdoppelt hat, ist das Pro-Kopf-Einkommen auf 3.000 Dollar und damit die Hälfte gesunken. Es beträgt ein Fünftel des Einkommens im Süden. "Das Geld von der Türkei fließt nicht in die Wirtschaft, sondern in die Administration", erklärt Özdil Nami, Vorstand des Unternehmerverbandes ISAD. Der Produktionssektor sei so gut wie nicht mehr vorhanden, die einst florierende Textil- und Lebensmittelindustrie liege brach, die meisten UnternehmerInnen konzentrieren sich auf Import und Vertrieb. Während der Privatsektor schrumpfte, schwoll der Verwaltungsapparat an.

Özdil Nami bringt es auf den Punkt: "Die Einkommen sinken, die Menschen können keine Steuern zahlen, die Türkei pumpt Geld in die marode Administration, die die Wirtschaft ruiniert." Mittlerweile sind die Gehälter im öffentlichen Dienst höher als in der Privatwirtschaft, viele Betriebe bevorzugen billigere Arbeitskräfte aus der Türkei. An Fachkräften mangelt es jedoch, obwohl der Bildungssektor sehr gut ausgebaut ist: Fünf Universitäten gab es in diesem Teil der Insel. Laut offiziellen Angaben soll die Arbeitslosigkeit in Nordzypern niedrig sein. Doch Nami schenkt den wirtschaftlichen Eckdaten keinen Glauben. Die versteckte Arbeitslosigkeit sei hoch. Warum sollten sonst tausende türkische ZypriotInnen im Süden einen Job suchen? Und warum sind hunderttausende Menschen nach Großbritannien oder Australien emigriert? Rund 80 Prozent der türkischen ZypriotInnen haben bereits im Süden einen EU-Pass beantragt.

So verfahren die Situation erscheint, so groß sind die Hoffnungen auf einen Kurswechsel der nordzypriotischen Regierung. Die - international nicht anerkannten - Parlamentswahlen kommenden Sonntag sehen viele daher als letzte Chance für eine Wiedervereinigung der Insel noch vor ihrem EU-Beitritt im Mai 2004. Die Oppositionsparteien, einigen Umfragen zu Folge in Führung, haben versprochen, Verhandlungsführer Rauf Denktash abzulösen. Der 79-jährige Präsident hatte noch Anfang des Jahres den von UN-Generalsekretär Kofi Annan vorgelegten Plan abgelehnt, der einen Bundesstaat Zypern mit zwei gleichberechtigten Gebietseinheiten vorsah.

Die "Zypern-Problem" genannte Teilung der Insel sehen mittlerweile die meisten als Grundübel an, das auf dem Weg zu einer Stabilisierung bekämpft werden muss. Seit dreißig Jahren wird darüber verhandelt. Das Problem ist die Sturheit der Türken, sagen sie auf der griechischen Seite. Das Problem ist die Uneinsichtigkeit der Griechen, sagen sie auf der türkischen Seite.

"Als ich 1968 geboren wurde, hat Rauf Denktash mit Glafkos Klerides (bis Jahresanfang Präsident der Republik Zypern) verhandelt", erzählt der türkisch-zypriotische Journalist Sami Özuslu. "Und mein ganzes Leben ist mit Verhandlungen verstrichen." Die Menschen wollen endlich eine Lösung - die Älteren, weil sie sich nach Frieden sehnen, die Jungen, damit sie nicht auswandern müssen. "Das Zypern-Problem ist ein Problem, das unseren Alltag und unsere Zukunft belastet", sagt der Journalist. Die meisten Familien haben Verwandte oder ihren Besitz verloren, ein Großteil der jungen Menschen sieht keine Perspektiven für sich. Auch Sami Özuslu weiß nicht, ob er in ein paar Jahren noch in Nordzypern leben wird. Er muss an seine viereinhalbjährige Tochter denken. "Hier kann ich ihr nicht sagen: Du kannst alles werden, was du willst, alles machen, was du dir wünschst." Es ist die Unsicherheit, die zermürbt.

Über die Sicherheit in der Zone, wo griechische und türkische Truppen aneinander geraten könnten, an der 180 Kilometer langen Demarkationslinie, wachen UN-Friedenssoldaten. Rund 1.000 sind auf Zypern stationiert. Und wenn die Insel kommendes Jahr der EU beitritt, werden sie noch immer da sein. Mitten im Gebiet der Europäischen Union ist damit eine Friedensmission der Vereinten Nationen notwendig, sollte bis zum Mai 2004 keine Lösung gefunden werden. "Das wäre eine Schande für Europa", meint auch Oberstleutnant Hans Tomaschitz, einer von sieben Österreichern, die für die UNO in Zypern ihren Dienst versehen.

Wir fahren entlang der Demarkationslinie, sehen die UN-Pufferzone. Diese ist an manchen Stellen einige Kilometer breit, an anderen schrumpft sie auf wenige Meter. In Nikosia enden Straßen auf der griechisch-zypriotischen Seite bei rostigen Zäunen und vor alten Öltonnen - dahinter zieht sich die Straße weiter in den türkisch-zypriotischen Teil. Wenige Kilometer entfernt befinden sich Minenfelder, mit Stacheldraht umzäunt und roten Hinweistafeln gekennzeichnet. Links ist der Stützpunkt der Türken, rechts der Stützpunkt der Griechen, dazwischen der Stützpunkt der UNO. Geschossen wird nicht mehr, doch an Provokationen fehlt es nicht. Ein Grieche beschimpft einen Türken, also schimpft dieser zurück. Ein Stein ist schnell bei der Hand, eine Drohung mit dem Gewehr leicht. So geht es jeden Tag. Es herrscht Wahlkampf, also hängen die Türken eine zweite türkische Flagge auf. Die Griechen sind empört, beschweren sich bei den UNO-Soldaten. Die versuchen zu vermitteln. Nichts darf in der Pufferzone verändert werden, ist ihr Argument. Das gilt auch für die Sandsäcke entlang der Waffenstillstandslinie. Doch die Säcke werden zentimeterweise vorwärts geschoben. Die Türken machen den Anfang. Die Griechen bleiben ihnen nichts schuldig. Oder umgekehrt. Die UNO darf das beiden Seiten nicht durchgehen lassen. Ohne Vermittler haben die Volksgruppen auf Zypern schon lange nicht mehr miteinander gesprochen.