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Mini-Gehirn aus dem Labor

Von Eva Stanzl

Wissen
An einen Oktopus erinnert das vier Millimeter große Gehirnmodell aus Stammzellen.
© Imba

Künftig könnte man Schizophrenie oder Autismus besser verstehen.


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Wien. Wiener Forscher haben erstmals das Modell eines menschlichen Gehirns in einer Organkultur nachgebildet. Auf den ersten Blick löst diese Nachricht gemischte Gefühle aus. Hoffnungen auf Vorratsgehirne aus eigenem Gewebe, falls wir von Alzheimer befallen werden, werden wach. Auch ein leises Grauen vor Ersatzteillagern aus menschlichen Denkorganen steigt auf.

Noch ist jedoch nichts davon Realität. Denn ohne äußere Einflüsse und Sinneskanäle bildet sich keine Fähigkeit, zu denken. Die vier Millimeter großen Gehirnmodelle im Labor denken somit nicht, außerdem ist ihre Entwicklungsfähigkeit - noch - begrenzt. Was die Stammzellenforscher Madeline Lancaster und Jürgen Knoblich vom Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (Imba) aber sehr wohl geschaffen haben, sind Zellkulturen, die sich bis zu einem gewissen Stadium genau so entwickeln wie das menschliche Denkorgan. Sie berichten darüber heute im Fachmagazin "Nature".

Der Gehirn-Entwicklung

auf der Spur

Nachdem erst vor wenigen Wochen japanische Mediziner vermeldeten, menschliches Lebergewebe zu einer Mini-Leber herangezüchtet zu haben, werden nun in Wien erstmals die frühen Entwicklungsstadien des menschlichen Gehirns mit Hilfe von Stammzellen nachgebildet. "Organoide" nennen sich solche im Labor geborenen Lebensformen.

Das menschliche Gehirn ist wohl das komplexeste Organ, das die Natur hervorgebracht hat. Da sich die menschliche Gehirnentwicklung aber grundsätzlich von jener in Tieren unterscheidet, können Forscher seine Ausbildung in Tiermodellen nur schwer untersuchen. "Bisher wurde Wissen über unsere Gehirnentwicklung in erster Linie von der Gehirnentwicklung der Maus abgeleitet. Beim Menschen gibt es aber eine Art von Vorläuferzellen (Stammzellen, Anm.), die die Maus nicht hat", sagt Jürgen Knoblich zur "Wiener Zeitung". Das hat zur Folge, dass ein Menschenhirn letztlich mehr Nervenzellen bilden kann als ein Mäusehirn - unser Gehirn wird größer.

Für die Herstellung der sogenannten "mini brains" im Labor verwendeten die Wissenschafter embryonale Stammzellen, die noch zu allen Zelltypen heranwachsen können, und induzierte pluripotente Stammzellen (iPS Zellen), die aus Patientengewebe gewonnen und sich in alles könnende Stammzellen zurückverwandeln können. "Die Stammzellen zeigten eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich selbst zu organisieren", erklärt Knoblich: Sie entwickelten sich in die unterschiedlichen Zelltypen des Gehirns und organisierten sich "in überraschend exakter und präziser Weise so wie im embryonalen Gehirn". Die Wissenschafter konnten die frühen Entwicklungsstadien des Großhirns und anderer Gehirnstrukturen, wie des Hippokampus, nachbilden.

Da iPS Zellen auch aus dem Gewebe (etwa der Haut) von Patienten mit Gendefekten erzeugt werden können, könne nun die Bildung von Erbkrankheiten des Gehirns schon im Frühstadium untersucht werden. Die Gehirnmodelle aus der Organkultur würden nicht nur Einblicke in die entscheidenden Prozesse der menschlichen Gehirnentwicklung geben, sondern auch in die Störungen, die Erbkrankheiten in diesen Prozessen verursachen.

Beispielhaft untersucht wurde Mikrozephalie. Bei der Erbkrankheit bildet sich ein kleineres Gehirn einhergehend mit geistiger Behinderung. "Es ist eine Erkrankung, die man auch in dieser frühen Entwicklungsphase modellieren kann", sagt Knoblich. Die Forscher konnten die kranke Gehirnstruktur in einer Kultur nachbauen und mit gesunden "Mini-Gehirnen" vergleichen. "Wie sich zeigt, sind Organoide für Mikrozephalie viel kleiner sind als die Organoide für gesunde Gehirne", so Knoblich. Die Forscher stellten fest, dass sich bei Mikrozephalie Stammzellen in die falsche Richtung teilen, dadurch zu Nervenzellen werden und im Endeffekt zu wenig Stammzellen übrig bleiben, um neue Nervenzellen zu bilden: Das Gehirn bleibt kleiner.

"Wir sind die Ersten, die ein gesundes und ein erkranktes Organoid gegenüberstellen", betont der Stammzellenforscher. Ihm zufolge bietet das Organsystem großes Potenzial. Man könnte künftig auch Schizophrenie oder Autismus in Zellkulturen untersuchen: "Bei bestimmten Formen dieser Erkrankungen entstehen Defekte bereits in der Entwicklung des Gehirns. Sollten wir alle sechs Schichten der Großhirnrinde in Organkultur bekommen, wäre das ein riesiger Sprung im Verständnis dieser Krankheit."

Gesamte Komplexität ist schwer nachzubauen

Lancaster und Knoblich verweisen auf eine neue 3D-Bildgebung und die Tatsache, das ihr Kultursystem die Zahl der Tierversuche verringere. "Nach acht bis zehn Tagen entsteht in neuronales Gewebe, nach 20 bis 30 Tagen unterschiedliche Hirnregionen", erläutert Madeline Lancaster. Gehirn-Organoide können die Entstehung von Gehirnstrukturen bis in die neunte Schwangerschaftswoche imitieren. Da später die Sauerstoffversorgung durch die Blutbahn erfolgt, ist derzeit das Limit der Modelle erreicht: Das Blutsystem mit Eingang, Ausgang und Pumpe kann in den Modellen noch nicht nachgebildet werden.

Vom Aussehen her erinnert das Hirn-Organoid ein bisschen an einen Oktopus. Doch auch abgesehen davon sei man "von einem ganzen Gehirn weit entfernt: Ich glaube, dass auf diesem Weg die gesamte Komplexität eines menschlichen Gehirns niemals nachgebildet werden kann", sagt Knoblich.