Der Schweizer Kunstrechtsexperte Mischa Senn über sittenwidrige und unlautere Werbung, die Grenzlinie zwischen Werbung und Kunst - und über den schwierigen Einsatz von Ironie.
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"Wiener Zeitung": Herr Senn, zappen Sie schnell weiter, wenn Werbung im Fernsehen kommt oder schauen Sie sich diese besonders aufmerksam an?
Mischa Senn: Ich finde TV-Werbung meistens eher dämlich, mit Ausnahme einiger wirklich gut gemachter Spots. Trotzdem schaue bzw. höre ich sie mir bewusst an. Als Mitglied eines Gremiums, das über Werbung urteilt, muss ich die Entwicklung und "the state of the art" beobachten.
Sie sind Vizepräsident und Fachexperte der Schweizerischen Lauterkeitskommission (SLK). Welche Aufgabe hat sich diese Kommission gestellt?
Die SLK besteht seit 1966 und wurde von der Werbebranche gegründet. Sie ist ein Selbstkontrollorgan, das aufgrund privater Regelungen das Verhalten der Marktteilnehmer beurteilt und ist damit für die Schweiz das, was der Österreichische Werberat für Ihr Land ist. Das Besondere am Schweizer Modell ist die paritätische Zusammensetzung: In drei gleichberechtigten Kammern sind alle Akteure des Marktes vertreten, also nicht nur die Vertreter der Werbe- und PR-Branche und der Medien, sondern auch die Konsumenten. Die SLK ist mit einem Gericht vergleichbar, hat aber keinerlei hoheitliche Funk- tionen. Die Entscheide haben den Charakter von Empfehlungen und nur eine verbindliche Wirkung für die Mitglieder der angeschlossenen Verbände. Trotzdem unterziehen sich über 90 Prozent der involvierten Streitparteien den Entscheiden der SLK. Das ist ein respektabler Erfolg.
Sie beurteilen also, ob Werbung lauter oder unlauter ist. Das Wort "Lauterkeit" klingt zumindest in Österreich etwas altmodisch. Durch welches Wort könnte man es am ehesten ersetzen?
Anstelle vom auch in der Schweiz häufig unklaren Wort kann man aufrichtig, redlich oder ehrlich sagen. Bei lauterer Werbung und lauterem Verhalten geht es um faires Auftreten, sei es im Geschäftsgebaren der Wettbewerbsteilnehmer, vor allem bei den Anbietern von Produkten, oder sei es in der Werbung selbst.
Was heißt das genau?
Dass das, was in der Werbung behauptet wird, auch grundsätzlich stimmen soll.
Ist es bei einem solchen Medium überhaupt möglich, eine Grenze zwischen wahr und unwahr zu ziehen? Wo verläuft die Trennlinie zwischen Ausschmückung, Übertreibung und Unwahrheit?
Die Grenzziehung ist gar nicht so schwierig: Man kann von einem Anbieter, der in seinem Werbespot behauptet, sein Produkt hätte in einem Test als Bestes abgeschnitten, durchaus verlangen, dass er den Nachweis der Richtigkeit erbringt. Schwieriger wird es, wenn bei einer werblichen Aussage Ironie im Spiel ist. Diese wird ja häufig nicht verstanden oder erkannt - vor allem in der Schweiz!
Wissen die Konsumenten nicht ohnedies, dass sie Werbung nicht uneingeschränkt glauben dürfen?
Manchmal ist es erschreckend, wie gutgläubig - um nicht zu sagen: dumm - einige Personen der Werbebotschaft glauben, selbst wenn es für den durchschnittlich aufmerksamen Konsumenten klar sein müsste, dass ein bestimmtes Werbeversprechen nicht stimmen kann. Hier ist zu entscheiden, von welchem Zielpublikum ausgegangen werden darf und was sein Verständnishorizont ist.
Aber es gibt doch in allen europäischen Staaten genügend Gesetze, um Werbung in ihre Schranken zu weisen . . .
Es bestehen in allen europäischen Staaten viele werberechtliche Bestimmungen in unzähligen Gesetzen. Sie sind national geregelt und in den verschiedenen Ländern zum Teil recht unterschiedlich, teils ähnlich bis identisch. Zudem werden die nationalen Rechte durch die EU-Vorgaben bestimmt, denen sich auch die Schweiz zu einem gewissen Grad anpassen muss. Dennoch gibt es immer noch einen großen Spielraum für Werbebotschaften.
Wie werden Sie auf Fälle aufmerksam? Beobachten Sie den Markt oder werden Beschwerden an Sie herangetragen?
Die SLK wird nicht von sich aus aktiv, sondern behandelt die Fälle aufgrund eingereichter Beschwerden. Jeder kann gegen unlautere Werbung Beschwerde erheben. Diese weitgehende Klagemöglichkeit entspricht einer Popularbeschwerde. Im Schnitt behandelt die SLK jährlich zwischen 300 und 400 Beschwerden.
Richten sich diese auch gegen sexistische Werbung?
Ja, wie beim Österreichischen Werberat auch. Und wir haben dafür klare Bestimmungen. Geschlechterdiskriminierung innerhalb der kommerziellen Kommunikation kann in unterschiedlichen Formen auftreten. Eine davon ist sexistische Werbung, die meist in bekannter Art daherkommt: Leicht bekleidete Frauen preisen ein Produkt an, mit dem einzigen Zweck des Blickfangs. Beispiel: Frauen in Bikinis stehen als "Dekoration" für Zigarren-Werbung. Rollenstereotypisierende Werbung kommt zwar auch vor, wird aber kaum je beanstandet. Sie fällt eben nicht so auf wie sexistische Werbung.
Sie sind Jurist und Hochschulprofessor an der Zürcher Hochschule der Künste. Darf die Kunst mehr als die Werbung?
In der landläufigen Meinung wird der Kunst mehr Spielraum gewährt als der Werbung. Ein anschauliches Beispiel war die Benetton-Kampagne in den 1990er-Jahren mit den berühmten Fotos von realen Ereignissen, beispielsweise die ölverschmierte Ente oder das neugeborene Baby an der Nabelschnur. Man warf Benetton vor, es sei unstatthaft, Werbung mit der Realität zu machen. Hätte man die gleichen Sujets in der Kunst verwendet, wäre kaum Empörung aufgekommen. Die SLK musste sich damals mit dem Bild des Neugeborenen auseinandersetzen. Der Entscheid lautete auf unlautere, weil sittenwidrige Werbung. Das war meines Erachtens ein Fehlurteil. Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, weshalb man "Werbung mit der Realität" nicht machen darf.
Das Schockierende bestand wohl darin, dass derart intime Momente plakatgroß zu Werbezwecken gebraucht und möglicherweise missbraucht wurden.
Die Kampagnen wurden zu Beginn zum Teil gänzlich missverstanden, weil man nur die Bilder und nicht auch die Aussage beurteilte. Genau das erwartet man sich aber bei der Kunst: dass sie auch eine - ästhetische - Aussage vermittelt. Ein Anspruch, der nicht immer erfüllt wird.
Werbung und Kunst sind beides Meinungsäußerungen, die teils mit gleichen Stilmitteln arbeiten. Die Absicht ähnelt sich auch: beide wollen beim Rezipienten eine Auseinandersetzung bewirken: Kunst mit einem Thema, Werbung mit einem Produkt. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass auch bestimmte Künstler eine kommerzielle Absicht verfolgen. Ihr Kunstwerk ist dann zugleich Werbung.
Gibt es einen ähnlichen aktuellen Fall wie Benetton, mit dem Sie zurzeit befasst sind?
Die Lauterkeitskommission hatte in der letzten Zeit keine Fälle mit sittenwidrigen Inhalten zu behandeln.
Sind die Konsumenten toleranter geworden? Oder die Werbeverantwortlichen zurückhaltender?
Ich denke schon, dass die heutigen Zuschauer offener sind, auch dank der Benetton-Diskussion. Andererseits sind die Unternehmen, welche die Werbung in Auftrag geben, wahrscheinlich etwas vorsichtiger, doch gibt es immer wieder mutige Ausreißer. Möglicherweise wandern aber gewisse Werbespots ins Internet, wo die formale Regulierung geringer ist, dafür ist dort aber die soziale Kontrolle in Diskussionsforen größer.
In Österreich wurde kürzlich der Film "Paradies Glaube" von Ulrich Seidl heftig diskutiert, der sich Blasphemie-Vorwürfe eingehandelt hat, u.a. weil er in einer Szene die Selbstbefriedigung einer Frau mit einem Kruzifix andeutet. Muss die Lauterkeit auch Gott verteidigen?
Es geht dabei um die Grundrechtskollision Religionsfreiheit versus Kunst- und Meinungsfreiheit. Wenn in so einem Fall juristische Anklage erhoben wird, liegt der Entscheid bei den Gerichten. Es muss dann zwischen den berechtigten und schützenswerten Interessen beider Kontrahenten abgewogen werden, in diesem Fall wären das Künstler und religiöse Personen. Wobei auch hier gilt, dass nicht Extremmeinungen den Ausschlag geben dürfen. Persönlich würde ich für die Freiheit der Kunst plädieren, wenn es nicht einfach um Provokation geht, sondern um eine künstlerische bzw. gesellschaftsrelevante Aussage.
Auch mit der Kunstform Satire haben Sie sich auseinandergesetzt. Wo verläuft bei ihr die Grenze zwischen berechtigter Kritik und Bloßstellung?
Satire wird oft missbraucht, denn sie darf - entgegen dem berühmten Satz von Tucholsky - eben nicht alles. Die Satire verfolgt ein ehernes Ziel und will mittels ästhetischer Mittel einen Missstand aufzeigen. Sie muss auch nicht witzig sein. Es ist also nicht jedes Lächerlichmachen von Ereignissen oder Personen satirisch intendiert, sondern häufig sogar ausschließlich auf die Person bezogen und kann eine Schmähkritik sein, wenn die Person nur bloßgestellt werden soll. Wird aber beispielsweise das unzulässige Verhalten eines Politikers mit den satirischen Mitteln der Karikatur aufgezeigt, ist das eine gerechtfertigte Satire. Satire ist eine Kunst - wenn man sie beherrscht.
Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als freischaffende Autorin und Journalistin in Mils in Tirol.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" />
Mischa Senn wurde 1957 in Zürich geboren. Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Er ist Leiter des Zentrums für Kulturrecht und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste und lebt in Zürich. Als Vizepräsident der Schweizerischen Lauterkeitskommission setzt er sich u.a. mit Rechts- und Sittenfragen bezüglich der Werbewirtschaft auseinander.