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Missbrauchte Tapferkeit

Von Rolf Steininger

Wissen

Vor siebzig Jahren kam die verheerende Schlacht um Stalingrad endgültig zum Stillstand. Die deutsche 6. Armee war aufgerieben, die Sowjets hatten gesiegt, die Stadt war ein Trümmerfeld.


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Am 2. Februar 1943 flog ein Fernaufklärer der deutschen Luftwaffe über Stalingrad und setzte die Meldung ab: "In Stalingrad keine Kampftätigkeit mehr!" Die Stadt an der Wolga war zum Massengrab geworden. Auch nach 70 Jahren ist nicht genau bekannt, wie viele Wehrmachtssoldaten umgekommen sind. Die Sowjets zählten später 147.000; nach Berechnungen des Freiburger Historikers Rüdiger Overmans wurden 195.000 Soldaten eingeschlossen; 29.000 wurden ausgeflogen, 60.000 starben im Kessel. Von den 110.000, die gefangen genommen wurden, starben 105.000; nur rund 5.000 überlebten. Österreicher waren stark vertreten, etwa 50.000, darunter die Infanteriedivision Hoch-und Deutschmeister.

Nur 1200 Österreicher kehrten zurück. Die Wehrmacht hatte die bis dahin größte Niederlage erlitten, in einem Krieg, den der Historiker Ernst Nolte den "ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der Neuzeit" genannt hat und der im Sommer 1941 mit dem "Unternehmen Barbarossa" begonnen hatte.

Eine Fehlentscheidung

Mit "Barbarossa" sollte "Lebensraum im Osten" erobert werden. Dieses Konzept war 1941 gescheitert. Im Frühjahr/Sommer 1942 reichten die militärischen Kräfte nur noch zur Offensive an einem Frontabschnitt aus. Laut "Führerweisung" sollte es jetzt darum gehen, ". . . den Übergang über den Kaukasus selbst zu gewinnen". Stalingrad sollte erreicht oder so unter die Wirkung schwerer Waffen gebracht werden, "dass es als weiteres Rüstungs- und Verkehrszentrum ausfällt". Das war eine gigantische Aufgabe, die nur bei völligem Zusammenbruch des Gegners zu schaffen war. Aber dazu kam es nicht. Die Sowjets wichen geschickt in die Weite des Raumes aus.

Eine folgenreiche Fehlentscheidung Hitlers war es dann, dem Vorstoß in Richtung Kaukasus Priorität einzuräumen und durch Abzug einer Panzerarmee die Zangenbewegung auf Stalingrad aufzugeben. Für den Angriff auf Stalingrad blieb damit nur die 6. Armee. Ihre Spitzen erreichten am 23. August nördlich von Stalingrad die Wolga; am selben Tag flog die Luftwaffe mit 600 Maschinen den schwersten Angriff seit einem Jahr. Stalingrad versank in Schutt und Asche.

Als die Deutschen in die Stadt eindrangen, leisteten die Sowjets erbitterten Widerstand. Zur Verteidigung Stalingrads wurden, wie wir heute wissen, in großer Zahl Soldaten aus Strafbataillonen eingesetzt. Um jeden Meter Boden wurde gekämpft, um jedes Haus, um jeden Trümmerhaufen.

Stalingrad war mehr als nur eine wichtige Industriestadt an der Wolga: Sie trug seit 1925 Stalins Namen. Sie durfte nicht fallen - ein Diktator kann sich keine Prestigeeinbuße leisten. Nicht zuletzt aus diesem Grund wollte auch Hitler diese Stadt unbedingt einnehmen - für sie hatte er das gleiche Schicksal wie für Leningrad und Moskau vorgesehen: Die gesamte männliche Bevölkerung sollte "beseitigt", Frauen und Kinder sollten deportiert werden.

Anfang Oktober verlangte er die "völlige Inbesitznahme" Stalingrads. Vier Wochen später waren 90 Prozent der inzwischen vollständig verwüsteten Stadt in deutscher Hand - "Stalingrad ist keine Stadt mehr", schrieb ein deutscher Offizier -, aber sie fiel nicht. Und das, obwohl Hitler dies bereits öffentlich angekündigt hatte. Am 30. September hatte er im Sportpalast festgestellt, die Wehrmacht werde Stalingrad "berennen und es auch nehmen". Und am 8. November hatte er in München bei seiner jährlichen Ansprache zur Erinnerung an den Putsch von 1923 großsprecherisch von sich gegeben, man habe Stalingrad genommen; es seien nur noch "ein paar ganz kleine Plätzchen da", die wolle er "mit ganz kleinen Stoßtrupps" einnehmen. Aber am 19. November griff die Rote Armee nördlich und südlich Stalingrads im Rücken der 6. Armee an, durchbrach die deutsch-rumänische Frontlinie und schloss am 22. November den Ring um die Stadt: Die 6. Armee saß in der Falle.

Der Anfang vom Ende

Das Schicksal der 6. Armee entschied sich in den Tagen unmittelbar nach dem 22. November. General Paulus und mit ihm die Befehlshaber der vier Armee- beziehungsweise Panzerkorps der 6. Armee wussten, dass in dieser Situation der Ausbruch die einzige Möglichkeit zur Rettung der Armee war. Seit dem 21. November liefen alle ihre Anträge bei Hitler in diese Richtung, sie wurden darin vom Oberkommando der Heeresgruppe B unterstützt.

Entscheidend ist jedoch, dass Hitler selbst von Anfang an fest entschlossen war, Stalingrad nicht aufzugeben. Am 21. November gab er Weisung auszuhalten, "über Luftversorgung folgt Befehl".

Paulus machte am 23. November in einem Funkspruch an Hitler klar, dass die Armee "in kürzester Zeit" vernichtet werde, wenn nicht "sofortige Herausnahme aller Divisionen aus Stalingrad" erfolge, gleichzeitig begann man mit Vorbereitungen für den Ausbruch.

Da kam am 24. November Hitlers Haltebefehl, verbunden mit der Zusage, er werde "alles tun", um die Armee "entsprechend zu versorgen und rechtzeitig zu entsetzen". Beides war nicht möglich - und die verantwortlichen Militärs wussten es! Im Grunde wurde damit das Todesurteil über die 6. Armee gesprochen. Spätestens hier hätte sich die Frage nach den Grenzen des militärischen Gehorsams stellen müssen.

Einer stellte diese Frage: der Kommandierende General des VI. Armeekorps, General von Seydlitz. Seine Denkschrift vom 25. November für Paulus gehört zu jenen bewegenden Dokumenten, die auch für spätere Generationen von Wert sind. Seydlitz machte Paulus die Lage klar - die dieser sehr wohl überblickte - und versuchte ihn zum Handeln gegen Hitlers Befehl zu bewegen, um die Katastrophe zu vermeiden. Paulus reichte die Denkschrift weiter, versehen mit dem Kommentar General Schmidts, seinem Chef des Stabes: "Wir haben uns nicht den Kopf des Führers zu zerbrechen und Gen. v. Seydlitz nicht den des O. B. (Paulus)."

"Ich stehe hier auf Befehl", so lautet die Zeile eines Briefes, den Paulus später aus dem Kessel nach Hause schickte. Dachte er vielleicht an General Hoepner? Der hatte ein Jahr vorher eigenmächtig den Rückzug befohlen, um 200.000 Soldaten zu retten - und war von Hitler unehrenhaft aus der Wehrmacht ausgestoßen worden. Paulus war kein Soldat des Kadavergehorsams, er hatte seine Zweifel, hoffte auf Man-stein, den Oberbefehlshaber der neuen Heeresgruppe Don und dessen Zusage vom 24. November: "Wir werden alles tun, Sie herauszuhauen."

Am 26. November machte Paulus einen letzten Versuch: Er forderte von Manstein "für den alleräußersten Fall die Genehmigung zum Handeln nach Lage". Unter Hinweis auf den "Führerbefehl" lehnte dieser ab; gleichzeitig versuchte er, Paulus von dessen Gewissensnöten zu befreien: "Was wird, wenn die Armee in Erfüllung des Befehls des Führers die letzte Patrone verschossen haben sollte, dafür sind Sie nicht verantwortlich." So einfach war das offenbar. Paulus, zum Generaloberst befördert, gab den Leitspruch aus: "Drum haltet aus, der Führer haut uns raus!"

Die 6. Armee benötigte mindestens 700 Tonnen Nachschub täglich. Göring hatte die entsprechende Zusage gemacht, auf die sich wiederum Hitler stützte - und die geradezu abenteuerlich war. Die tatsächlich eingeflogenen Mengen überschritten im Durchschnitt bis zum Ende am 2. Februar nicht 100 Tonnen. Das hieß schlicht und einfach: Die 6. Armee siechte dahin und verhungerte! Der Armeearzt sprach Anfang Jänner von einem "Hungerexperiment großen Stils" -und das meinte er nicht einmal ironisch. Als am 19. Dezember der Entsatzangriff der 4. Panzerarmee unter General Hoth 50 Kilometer vor dem Kessel stecken blieb, war die 6. Armee nicht in der Lage, ihr entgegenzustoßen. Der Treibstoff für die Panzer reichte nur noch für 20 Kilometer, die Truppe war abgekämpft.

Am 20. Dezember gab es die ersten Hungertoten. Am 26. Dezember notierte ein Offizier aus dem Stab der 6. Armee, in kurzer Zeit müsse die physische Widerstandskraft derart gering werden, "dass bei der großen Kälte der Moment kommt, wo der einzelne Mann sagt: Jetzt ist mir alles scheißegal, und einfach langsam erfriert oder vom Russen überrannt wird". Von Mitte Jänner an erhielt ein Teil der Truppe überhaupt nichts mehr zu essen!

Mit dem Verfall der physischen Kräfte sank die Kampfmoral. Fälle von Selbstverstümmelungen häuften sich. Immer mehr Soldaten ließen absichtlich einzelne Gliedmaßen erfrieren in der Hoffnung, ausgeflogen zu werden. Um die Kampfbereitschaft aufrechtzuerhalten, wurden Disziplinverletzungen unnachgiebig verfolgt: In nur acht Tagen im Jänner 1943 wurden allein im Bereich von vier Divisionen 364 Todesurteile wegen Feigheit, unerlaubter Entfernung von der Truppe, Fahnenflucht und Verpflegungsdiebstahl ausgesprochen - und vollstreckt. (Die Zahl der Todesurteile im gesamten übrigen Feldheer im vierten Quartal 1942 betrug 578.)

Gehorsam bis zuletzt

Am 8. Januar boten die Sowjets die Kapitulation an. Paulus lehnte das Angebot als Feindpropaganda ab und befahl darüber hinaus, zukünftige Parlamentäre durch Feuer abzuweisen. Zwei Tage später trat die Rote Armee zum Angriff an, spaltete den Kessel und erdrückte ihn. Es gab keinen organisierten Widerstand mehr, und es gab nun überhaupt keinen Sinn mehr im Aushalten - wenn es ihn denn je gegeben hatte -, um sowjetische Truppen zu binden.

Manstein äußerte am 22. Jänner, die Sowjets brauchten "die völlige Erledigung der 6. Armee nicht mehr abzuwarten", um Kräfte von Stalingrad abzuziehen. Am 24. Jänner bat Paulus endlich, dem sinnlosen Sterben durch Kapitulation ein Ende zu bereiten. Hitler lehnte ab - Paulus gehorchte bis zum Ende.

Was bleibt als Fazit? Mit Stalingrad war für alle sichtbar der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht dahin. Die Schlacht war einer der entscheidenden militärischen Wendepunkte im Zweiten Weltkrieg. Die Art und Weise aber, wie die 6. Armee unterging, "verraten und verkauft" von der politischen und militärischen Führung, gibt der Schlacht ihren besonderen Stellenwert.

Schärfer als andere militärische Ereignisse zeigt Stalingrad den Größenwahn der politischen Führung und das Problem des sittlichen Gehorsams. Es geht um Schuld und Verantwortung der obersten Führung und um die Frage, wo der Gehorsam endet; es geht um den Missbrauch deutschen Soldatentums und um unsägliches menschliches Leid - dieses auch auf Seiten der Sowjets.

Rolf Steininger, geboren 1942, ist emeritierter o. Univ.-Prof. und war von 1984 bis 2010 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.