Die russische Gesellschaft ist politisch tief gespalten.
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Moskau.
Gennadi Sjuganow? Der Stalin-Anbeter, der seit seiner - durch eine höchst undemokratische Medienkampagne herbeigeführten - Niederlage gegen Boris Jelzin 1996 als ewiger Zweiter der russischen Politik gilt? Wladimir Schirinowski, der Polit-Clown und Schlägertyp, der davon träumte, dass russische Soldaten dereinst "ihre Stiefel im Indischen Ozean" waschen würden? Michail Prochorow, der reiche Oligarch, den viele Beobachter für eine Kreml-Marionette halten? Oder etwa gar Sergej Mironow, ein Polit-Adabei aus der zweiten Reihe, zu dem vielen Russen gar nichts einfällt?
Nein, leicht wird es eine ganze Menge Wähler bei den russischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag nicht haben, wenn sie auf dem Stimmzettel nach einer Alternative zum Kandidaten "der Macht", wie man in Russland sagt, zu Premierminister Wladimir Putin also, Ausschau halten. Denn die Kandidaten, die ihnen alternativ zur Verfügung stehen, gelten samt und sonders als mit dem Kreml verbandelt - auch wenn Sjuganows Kommunisten bereits im Dezember nach den Parlamentswahlen gegen die vermuteten Fälschungen auf die Straße gingen, auch wenn Milliardär Prochorow sich als "Anti-Putin" inszeniert und bei den Protestmärschen der außerparlamentarischen Opposition mitmarschiert. Nachdem Grigori Jawlinski, dem Chef der liberalen Partei Jabloko, von der Wahlkommission die Zulassung als Kandidat verweigert worden war, ist der liberale Teil jener protestierenden Mittelschicht, die seit Dezember vor allem in den großen Städten wie Moskau und St. Petersburg gegen Putins Rückkehr in den Kreml mobilmacht, auf dem Stimmzettel politisch heimatlos. Jawlinskii, darin sind sich Beobachter einig, hätte zwar nie und nimmer Chancen gehabt, russischer Präsident zu werden, er hätte aber eventuell im nun anstehenden ersten Wahlgang eine erkleckliche Anzahl von Proteststimmen auf sich vereinigen können. Putin hätte sich damit wahrscheinlich einer Stichwahl stellen müssen.
Zweiter Wahlgang?
Diese Wahrscheinlichkeit ist nun wesentlich geringer. In Umfragen der staatlichen Meinungsforschungsinstitute Wziom und FOM bewegt sich der Petersburger, der in der Silvesternacht 2000 von Boris Jelzin in den Kreml gehievt worden war, bereits wieder deutlich über der 50-Prozent-Marke, unter die er zeitweise gerutscht ist: bei rund 59 Prozent - sein nächster Verfolger Sjuganow käme nur auf 15 Prozent. Das unabhängige Lewada-Institut sieht Putin überhaupt bei 63 bis 66 Prozent. Eine Stichwahl, die für den sieggewohnten Putin wohl als Schmach empfunden würde, würde somit, wenn die Zahlen stimmen, in weite Ferne rücken. Dennoch kann sich sich Putin nicht zurücklehnen, hat sich der Ton vor dem Urnengang noch einmal verschärft - bezeichnenderweise weniger unter den Kandidaten als zwischen Putin und der Protestbewegung: Seine Opponenten seien "zu allem fähig", sagte Putin vor Anhängern. "Sie wollen geradezu Zusammenstöße provozieren und tun alles dafür, das zu erreichen", meinte er. Seine Gegner würden sogar "jemanden abknallen", um anschließend die Staatsmacht dafür verantwortlich machen zu können. Der Oppositionelle Sergej Udalzow, Chef der oppositionellen "Linksfront", bezeichnete den Vorwurf als idiotisch. Er verschärfe nur die gesellschaftlichen Spannungen.
Tatsächlich ist das heutige Russland tief in zumindest zwei unterschiedliche Lager gespalten. Noch aus Sowjetzeiten existiert im Land eine meist an Universitäten ausgebildete Mittelschicht, die es gerade in der Putin-Ära zu ansehnlichem Wohlstand schaffte und nun gegen den Petersburger auf die Straße geht. Ihr gegenüber stehen jene, denen die Erschütterungen der Perestroika unter Michail Gorbatschow, des Zerfalls der Sowjetunion und der chaotischen 1990er Jahre unter dem oft tappsig-betrunken auftretenden Boris Jelzin noch tief in den Knochen stecken. Für sie ist Putin zumindest ein Symbol für Stabilität: Seit seinem Amtsantritt 2000 sind - nicht zuletzt wegen anhaltend hoher Öl- und Gaspreise - in Russland die Realeinkommen gerade auch der abhängig Beschäftigten erheblich gewachsen, während die Armut zurückgegangen ist: Heute beträgt die Anzahl jener Haushalte, die angeben, dass das Geld selbst für die Versorgung mit Lebensmitteln nur knapp oder gar nicht reicht, keine 10 Prozent mehr - zu Beginn von Putins Amtszeit behauptete das noch rund ein Viertel der russischen Bevölkerung von sich - Leistungen, auf die Putin hinweist. Er erinnert beständig an das Chaos der Neunziger und daran, dass er das Land aus der Sackgasse geführt hat. Für eine Mehrheit der Russen sind diese Argumente nach wie vor stichhaltig.
"Sie wollen den Rechtsstaat"
Jene, die gegen Putin demonstrieren - laut Studien soll sich der Protest im Dezember zu 70 Prozent aus Akademikern rekrutiert haben - gehen allerdings nicht für stärkere soziale Alimentierung auf die Straße. "Sie wollen im Grunde den Rechtsstaat", meint Hans-Geog Heinrich, Politologe und Russland-Experte vom Wiener Think-Tank "Iceur", der immer wieder russische Experten nach Wien zu Veranstaltungen einlädt. Als Hauptproblem sieht diese neue, aktive Schicht in Russland die überall grassierende Korruption, die sich in den Putin-Jahren nicht reduziert, sondern eher noch verschärft hat - schließlich sind größere Summen als in den 1990er Jahren im Spiel. "Es gibt zahllose Beispiele, etwa im Bereich der Sicherheit von Eigentum: Warum, so fragen sich Wirtschaftstreibende, sollen wir eigentlich 100 Sicherheitsleute privat anstellen, um unser Eigentum zu schützen? Warum Schutzgeld zahlen? Das sind alles Dienstleistungen, die der Staat erfüllen müsste. Dass diese Rechtsgarantien, die am Papier stehen, auch wirklich gelten - dafür kämpfen diese Leute", sagte Heinrich der "Wiener Zeitung". Die Mittelschicht wolle "normale Verhältnisse", solche, wie sie in Europa herrschen.
Dass Putin nach einem Sieg dieser Mittelschicht etwas anbieten muss, dass er sich vielleicht neu erfinden muss - von einem "Putin 2.0" ist die Rede, was immer sich dahinter verbergen mag -, weiß der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Liebhaber asiatischer Kampfsportarten wohl selbst. Um die Wahlschlacht am Sonntag zu gewinnen, setzt er allerdings auf die altbekannte Strategie des nationalen Schulterschlusses. Russische Fernsehsender ziehen mit dramatischer Musik untermalte Parallelen zwischen den aktuellen Protesten und russischen Schicksalstunden wie dem Revolutionsjahr 1917, sowjetnostalgische Politologen wie Sergej Kurginjan, dem die Schaffung einer "UdSSR 2.0" vorschwebt, warnen im TV vor einer "zweiten Perestroika", vor einem Auseinanderbrechen diesmal nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der Russischen Föderation. Der kremlkritischen Opposition ist in diesem Szenario die Rolle des Verräters zugedacht - "Das Ausland hilft ihnen" übertitelte der Sender NTV einen Beitrag, der eine ganze Reihe Oppositioneller wie den Ex-Vizepremier unter Jelzin, Boris Nemzow und andere Vertreter der sogenannten russischen Zivilgesellschaft auf dem Weg in die amerikanische Botschaft zeigte. Dass sich der neue US-Botschafter in Russland, Michael McFaul, als "Spezialist für Demokratie, Anti-Diktatur-Bewegungen und Revolutionen" bezeichnete, passte da ins Bild. Außenminister Sergej Lawrow warf den USA dann auch in scharfen Worten Einmischung in den russischen Wahlkampf vor: Die Zeiten, "in denen Russland die Leviten gelesen werden konnten", seien vorbei. Moskau würde "entschieden" auf Versuche reagieren, den politischen Prozess und die Wahlen in Russland zu beeinflussen. Dazu zähle auch die finanzielle Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Russland, so die Botschaft der Anhänger des Kreml, müsse - wie stets in der Geschichte - zusammenhalten, um zu überleben, müsse sich um eine starke Zentralmacht scharen. Die Protestbewegung, so der Politologe Kurginjan, wolle zudem "eine Revolution der Reichen".
In Moskau war zuletzt unter anderem die unabhängige Wahlbeobachtergruppe Golos unter Druck geraten, die vom Westen unterstützt wird. Der Mietvertrag für das Büro der Organisation, der eigentlich bis August aufrecht gewesen wäre, wurde überraschend gekündigt, Golos musste umziehen. Derartige Praktiken nähren bei vielen den Verdacht, dass es auch diesmal wieder zu Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe und -auszählung kommen wird - obwohl Premierminister Putin Überwachungskameras aufstellen ließ und trotz einer großen Anzahl von Beobachtern im Land. Vor allem in Betrieben und beim Militär gilt das Wählen des "richtigen" Kandidaten als notwendig für den eigenen Aufstieg. Nach der Wahl sind deshalb bereits wieder Proteste geplant.
Austrorussen
27.274 Menschen mit russischer Herkunft leben in Österreich. Ihre Zahl hat sich zwischen 2002 und 2011 versechsfacht. Laut der Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen stellen die Russen in Österreich die fünftgrößte Community aus dem Nicht-EU-Raum, und die größte russisch-orthodoxe Kathedrale Mitteleuropas steht in Wien. Hier leben auch fast die Hälfte aller Austro-Russen (13.000), in Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark sind es je rund 3000, in Tirol, Salzburg, Vorarlberg und Kärnten je etwa 1000, im Burgenland zirka 350.
Die erste russische Flüchtlingswelle kam im Zuge der Oktober-Revolution 1917 nach Österreich (vor allem Adlige, Offiziere der Weißen Armee und Vertreter der "Intelligenzija"), die zweite nach dem Zweiten Weltkrieg, die dritte in den 1970er Jahren und die vierte nach dem Ende der UdSSR 1989. Im vergangenen Jahrzehnt stellten Staatsangehörige der Russischen Föderation (vor allem Tschetschenen) die Hälfte aller 15.000 bewilligten Asylanträge in Österreich.
Bei der Präsidentenwahl am Sonntag erwartet die russische Botschaft in Wien, dass etwas mehr als 1000 Russen ihre Stimme abgeben werden, etwa so viele wie bei der Duma-Wahl am 4. Dezember 2011.