Linguistin Brizic wertet derzeit Daten aus großem Sprachprojekt aus.
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Wien. Kinder aus mehrsprachigen Familien schneiden in der Schule oft schlechter ab als ihre mono- und bilingualen Mitschüler. Liegt das aber wirklich nur an der Mehrsprachigkeit? Oder findet hier in der Schule auch eine Zuschreibung zu Gruppen nach vermeintlicher ethnischer Zugehörigkeit statt, denen man keinen Bildungserfolg zutraut? Unterstützt der Muttersprachenunterricht die Kinder beim Deutscherwerb - oder hindert er sie sogar daran, dann nämlich, wenn dem Kind hier eine vermeintliche Muttersprache aufgezwungen wird? Diese und andere Fragen ergaben sich aus dem umfangreichen Datenmaterial, das eine Forschergruppe unter der Leitung der Linguistin Katharina Brizic im Rahmen des mehrjährigen Projekts "Bildungserfolg bei Sprachtod?" an der Akademie der Wissenschaften seit 2008 erhoben hat. Kinder, Eltern und Lehrer wurden in detaillierten Interviews im Zuge des Forschungsprojekts befragt, das 2014 zur Gänze publiziert wird. Im Rahmen des Symposiums "Nach den Sternen greifen. Sprachenkosmos Wien" des lernraums.wien der Wiener Volkshochschulen präsentierte Brizic schon jetzt einen Teil der Forschungsergebnisse.
Das Projekt wurde sowohl nach soziologischen als auch linguistischen Gesichtspunkten betrachtet. Viel Raum gab man aber auch dem direkten Gespräch mit Kindern, Eltern und Lehrern, die nun mit den quantitativen Ergebnissen verknüpft werden müssen. So ergibt sich nach und nach ein Riesenpuzzle.
Die Antworten sind ernüchternd. "Endlich anders arbeiten können" wollte etwa eine Lehrerin, die sich freute, eine Mehrstufenklasse an einer Schule übernehmen zu können, die bereits über eine solche Klasse verfügte. Dann musste sie zusehen, wie man lernstarke Kinder aus ihrer Klasse abzog und ihr nur die lernschwachen zuteilte.
Zu wenige Begleitlehrer
Noch nie habe sie "so eine Dichte an emotional und sozial bedürftigen Kindern" erlebt, erzählt eine Pädagogin. Diese seien fast in der Mehrzahl, und die anderen gingen unter. Die Reaktion der Lehrer: Um nicht selbst unterzugehen, holt man sich Hilfe. Doch die Anzahl der Begleitlehrer wurde zunehmend gekürzt, kritisiert Brizic im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Die Lösung ist es, einem Kind einen sonderpädagogischen Förderbedarf zuzuweisen. So bekommt man eine Integrationslehrerin in die Klasse. Die Pädagogen räumen dabei selbst ein, dass dieser Förderbedarf, der zum Beispiel für Mathematik oder Deutsch vergeben wird, in der Realität Antwort auf die Verhaltensauffälligkeit eines Kindes ist.
Eine andere Reaktion: die Kinder zu kategorisieren - damit aber auch abzustempeln. Brizic hat hier die Beschreibungen der Lehrer von einzelnen Schülertypen ("Der Rebell", "Der Sprachlose", "Der Wanderer zwischen den Welten" etc.) mit der tatsächlichen geografischen Herkunft der Familie, aber auch dem Lehrerbild von der Herkunft verglichen. Fazit: Kinder mit kurdischem oder Roma-Hintergrund weisen den schlechtesten Schulerfolg auf. Irritierend ist aber, dass Lehrer hier bei der Kategorisierung vor allem sozio-ökonomische Kriterien heranziehen und dann von den "typischen türkischen Kindern" sprechen. In Wahrheit stammen viele dieser hier gemeinten Familien aus dem kurdischen Gebiet in Zentralanatolien.
Was dann oft passiert: Kinder werden in den Türkisch-Muttersprachenunterricht geschickt. Oder im Fall von Roma-Kindern in den Romanes-Unterricht. Die Muttersprache kann aber eine ganz andere sein: Kurdisch eben oder Rumänisch. "Man kann Kindern doch keine künstliche Muttersprache aufoktroyieren", betont Brizic. Hier müsste eine intensivere Sprachenerhebung bei der Einschulung stattfinden. Wobei sich die Forscherin des Problems bewusst ist, dass Kurden einerseits oft diese Geschichte hinter sich lassen wollen und daher Kurdisch nicht angeben oder schlicht selbst nicht sagen könnten, welche nun die Muttersprache eines Kindes sei. Sie schlägt hier einen multilingualen Muttersprachenunterricht vor - etwa Türkisch-Kurdisch.
Wie wichtig eine starke Muttersprache ist, zeigt allerdings auch folgendes Ergebnis der Studie, stellvertretend am Beispiel des Buben Hüs. Die Familie kommt aus dem kurdischen Gebiet, die Mutter beherrscht nur Kurdisch, der Vater Kurdisch, mittelmäßiges Türkisch und kein gutes Deutsch. Der Mutter wurde untersagt, mit den Kindern kurdisch zu reden - und um deren Bildungserfolg nicht im Weg zu stehen, nimmt sie sich zurück und redet gar nichts. Dem Buben ist Deutsch am wichtigsten - und dennoch sind seine schulischen Leistungen schlecht. "Der Gipfelstürmer" nennt Brizic diese Art von Kindern. Man will nur mehr die neue Sprache annehmen, aber es fehlt die Basis.
Brückenfunktion
Besser schneidet dagegen Ser ab, dessen Familie ebenfalls aus einem Kurdengebiet aus der Osttürkei stammt. Die Familie spricht kurdisch zu Hause. Die Mutter spricht mit dem Buben zunächst auf Kurdisch, dann auf Anraten der Umgebung auch auf Deutsch sowie schließlich auf Anraten des Kinderarztes auf Türkisch, da er dies für die Muttersprache hält - die Mutter ist ja mit Türkisch aufgewachsen und hat selbst erst mit 18 Jahren Kurdisch gelernt. Ser beherrscht zur Zeit der Erhebung alle drei Sprachen, mag Kurdisch und Deutsch besonders und das Türkische erfüllt bei ihm "eine Brückenfunktion", wie es Brizic nennt. In Deutsch schnitt Ser übrigens gut ab - und besucht inzwischen ein Gymnasium. Hüs dagegen entging nur knapp einer Sonderschulzuweisung.
Zur Person
Katharina Brizic
Katharina Brizic, geboren in Wien, zunächst Musikstudium und Tourneen als Konzertpianistin in Europa und Asien; dann Linguistikstudium, 2005 Dissertation im Bereich Sprachwissenschaft/Migrationsforschung. Lektorin an der Universität Wien, 2008 Start des Projekts "Bildungserfolg bei Sprachtod?" (B.E.S.T.) an der Akademie der Wissenschaften unter ihrer Leitung. Derzeit ist sie Gastprofessorin am Institut für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Duisburg-Essen in Deutschland. Ab kommendem Herbst ist Brizic für vier Semester Research Scholar an der University of California in Berkeley.