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Mister 22-Prozent aus Feuerland zieht in die Casa Rosada ein

Von Antje Krüger

Politik

Buenos Aires - Der Zeitpunkt könnte nicht symbolträchtiger sein. Am 25. Mai 1810 erlangte Argentinien seine Unabhängigkeit. Zum 193. Jubiläum der Mai-Revolution am Sonntag wird nun Néstor Kirchner (PJ) das Amt des Präsidenten dieser Republik antreten.


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In Siegerpose mit hochgereckten Armen trat der Peronist letzte Woche vor die Kameras. Am 14. Mai hatte sich entschieden, dass der 53-jährige den Sitz in der Casa Rosada, dem Regierungsgebäude in Buenos Aires, übernehmen wird. Doch Kirchner hat den Präsidentenstuhl nicht gewonnen. Er ist - formal dem Prozedere der argentinischen Verfassung folgend - auf ihn gehoben worden. Denn der Gouverneur der Provinz Santa Cruz, der nun für die nächsten vier Jahre im Namen des argentinischen Volkes dessen Geschicke lenken soll, ist lediglich von

22 Prozent desselbigen gewählt worden. Er wurde mit weniger als einem Viertel der Stimmen Präsident, weil sein Kontrahent für den zweiten Wahlgang, Ex-Präsident Carlos Menem (PJ), zurücktrat. Kirchners bevorstehende Machtübernahme ist somit eine Gratwanderung auf den Grenzen von Demokratie und Repräsentativität, ein Balanceakt auf dem in Argentinien mürben Seil politischer Stabilität.

Skeptisches Abwarten begleitet deshalb den Amtsantritt des Peronisten. Die Wahl hat wenig an der Resignation der Argentinier geändert, die einmal mehr das Gefühl vermittelt bekamen, lediglich Statisten im politischen Machtkampf zu sein. Auch wenn Kirchner in der zweiten Wahlrunde laut Umfragen mit 70% der Stimmen hätte rechnen können - der Grund, warum Carlos Menem aufgab - weiß in Argentinien doch jeder, dass diese Stimmen nur dem geringeren Übel gegolten hätten.

Aber auch der Rückhalt in der eigenen Partei ist schwach. Die PJ ist tief gespalten. Der zurückgetretene Menem kündete aus seiner Schmollecke heraus schon an, die Niederlage in einen baldigen Sieg zu verwandeln, eine Drohung, die durchaus ernst genommen werden sollte. Und auch der Interimspräsident Eduardo Duhalde, ebenfalls Peronist, wird seinen Favoriten Kirchner zwar noch eine Weile unterstützen, dann aber in Hinblick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen sich selbst als Kandidat zu profilieren suchen. Welcher Ränke sowohl Menem als auch Duhalde beim Ringen um die Macht fähig sind, haben sie erst im vergangenen Wahlkampf zur Genüge gezeigt.

Doch möglicherweise birgt gerade diese fragile Situation eine Chance nicht nur für Kirchner, sondern für das angeschlagene politische System Argentiniens überhaupt. Denn der resolute, aber öffentlichkeitsscheue Mann aus Feuerland ist gezwungen, Koalitionen einzugehen und Kompromisse zu suchen. Die Zeit der faktischen Alleinherrschaften ist vorbei. Der Zerfall der beiden großen Volksparteien, der Peronisten und der Radikalen, öffnet den Weg für eine plurale politische Landschaft. Argentiniens Stabilität und Kirchners Präsidentschaft hängen in großem Maße davon ab, wie es dem studierten Rechtsanwalt gelingen wird, die verschiedenen Interessen zu einen.

Soziale Zeitbombe

Dabei muss Kirchner schnell handeln. Eine Armutsquote von fast 60 Prozent, Hunger, Arbeitslosigkeit und steigende Kriminalität sind eine soziale Zeitbombe. Im August laufen zudem die bisher getroffenen Umschuldungsvereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) aus. Mehr als 3 Milliarden US-Dollar Schuldenzahlung stehen dann alleine bis Dezember diesen Jahres an. Die Justiz, vor allem der Oberste Gerichtshof, muss dringend mit unabhängigen Richtern besetzt werden, sollen nicht sämtliche Reformvorschläge an der Jurisdiktion scheitern. Und nur, wenn es Kirchner gelingt, neben einer deutlichen Verbesserung der sozialen Lage auch Zeichen im Kampf gegen die Korruption der Machteliten zu setzen, könnte er bei den Argentiniern diejenige Anerkennung finden, die ihm jetzt als Rückhalt noch fehlt.

Eine Anerkennung, die er dringend nötig haben wird, um nicht vor Ablauf seiner Amtszeit vor wütenden Volksmassen und/oder politischen Intrigen im Helikopter wie sein letzter gewählter Vorgänger, Fernando De la Rúa (UCR), aus eben jenem Gebäude fliehen zu müssen, in das er nun einziehen wird. Der scheidende Übergangspräsident Eduardo Duhalde, der am Sonntag das Amt an seinen Parteifreund abtreten wird, gab den Wunsch mit auf den Weg, dass Argentinien nicht erneut einen "Feuerwehrpräsidenten" wie ihn nötig haben solle. Ein hoher Wunsch, ausgesprochen an einem Brandherd, der noch immer schwelt und auf den hinter den politischen Kulissen so einige erpicht sind.