2019 wird das Brexit-Jahr. Immer noch ungewiss, wie der EU-Austritt aussehen soll.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
London/Wien. Mister Brexit sitzt in einem Kammerl und schreibt Schlagworte an die Wand: Gesundheitssystem. Türkei. Jobs. Märchen. Er steht vor einem roten Bus mit der Aufschrift "Wir schicken der EU 350 Millionen Pfund pro Woche. Bauen wir stattdessen unser Gesundheitssystem aus" und schreit: "Let’s take back control!" Er erklärt jedem, der es hören will, dass er das politische System aufbrechen werde. Dass sie ihn nicht stoppen, nicht kontrollieren könnten. Es ist Dominic Cummings, das Hirn hinter der "Vote Leave"-Kampagne, dargestellt von Benedict Cumberbatch in der HBO-Produktion "Brexit". Der Film beleuchtet die Zeit vor dem folgenschweren Referendum im Sommer 2016. Cummings schürte Angst und Hass, er ist verantwortlich für jene toxische Mischung aus Halbwahrheiten, Mythen und blanken Lügen, die dem "Leave"-Lager schließlich zum Sieg verhalf.
Ende Jänner wird "Brexit" erscheinen, kurz darauf soll das Vereinigte Königreich tatsächlich aus der EU austreten. Wie genau der EU-Ausstieg Großbritanniens sich gestalten wird, ist allerdings auch drei Monate vor dem Brexit-Datum unklar.
1. Abstimmung im Unterhaus
Geplant ist, dass die Abgeordneten im britischen Parlament in der Woche vom 14. Jänner über Theresa Mays Brexit-Abkommen abstimmen sollen. Das Problem: Der Deal, den die Premierministerin mit der EU ausgehandelt hat, wird so keine Mehrheit bekommen. Will May ihr Abkommen durchs Unterhaus bringen, muss sie sich etwas einfallen lassen. Deshalb hat sie die für den 11. Dezember geplante Abstimmung auch verschoben - zuerst auf unbestimmte Zeit, dann auf die letzte Minute, denn als Deadline gilt der 21. Jänner. Im Unterhaus braucht May 318 Stimmen, sie muss zahlreiche Labour-Abgeordnete überzeugen, um die Gegenstimmen der Tory-Rebellen aus ihrer eigenen Partei und der nordirischen DUP auszugleichen. Sie stoßen sich vor allem an der umstrittenen Irlandfrage: Der "Backstop" sieht vor, dass die Grenze zwischen Irland und dem zum Königreich gehörenden Nordirland vorerst offenbleibt. Nordirland bleibt in der Zollunion mit der EU, damit es keine harte Grenze auf der Insel braucht. Möglich ist, dass dann bestimmte Kontrollen auf der Irischen See stattfinden, also zwischen Irland und Großbritannien. Das ist nicht nur den Protestanten in Nordirland ein Graus - auch viele Konservative sehen eine Spaltung des Vereinigten Königreichs. May hat bereits versucht, Brüssel zu Zugeständnissen beim Backstop zu bewegen - ohne Erfolg. Es darf keine harte Grenze auf der irischen Insel geben, da stehen die 26 restlichen Mitgliedstaaten geschlossen hinter Dublin.
2. Misstrauensvotum führt zu Neuwahlen
Einer Abstimmung über Mays Brexit-Abkommen könnte ein Misstrauensantrag gegen ihre Regierung dazwischenkommen. Labour-Chef Jeremy Corbyn ziert sich, seine eigene Parteibasis und die schottische SNP machen Druck in diese Richtung. Sollte May im Jänner mit ihrem Brexit-Abkommen scheitern, gibt es für Corbyn wohl keine Ausreden mehr. Das Misstrauensvotum ihrer eigenen Fraktion hat May Anfang Dezember überstanden - gegen Angriffe ihrer konservativen Tories ist sie in den kommenden zwölf Monaten immun. Bei einem Misstrauensantrag gegen die gesamte Regierung würden aber alle 650 Abgeordneten mitstimmen. Um die Regierung zu stürzen braucht es eine einfache Mehrheit - die derzeit unwahrscheinlich ist. Kommt sie dennoch zustande, hat May immer noch zwei Wochen Zeit, genug Abgeordnete umzustimmen und ein Vertrauensvotum durchzubringen. Sollte sie damit scheitern, kommt es zu Neuwahlen. Meinungsumfragen sehen Labour und die Tories derzeit ungefähr gleichauf.
Falls es tatsächlich dazu kommen würde, müsste das Vereinigte Königreich Brüssel um eine Verschiebung des Austrittsdatums bitten. Dasselbe gilt für den Fall, dass sich eine Mehrheit für ein zweites Referendum findet.
3. Misstrauensvotum und zweites Referendum
Viele hoffen darauf, prominente Briten rufen dazu auf, eine Mehrheit der Abgeordneten lehnt es ab: Ein neues Referendum über den Brexit gilt als möglicher Exit vom Brexit.
May hat es von Anfang an ausgeschlossen - es würde den Glauben an die Demokratie unterminieren, sagt die britische Premierministerin. Die Idee hat keine Chance, solange sich die Führung der größten Oppositionspartei nicht für ein zweites Referendum einsetzt - was Jeremy Corbyn bisher verweigert hat. Der Labour-Chef strebt Neuwahlen an. Erst wenn dieses Vorhaben scheitert (durch ein abgelehntes Misstrauensvotum), will er sich für ein Referendum aussprechen. Und dann bräuchte es dafür noch eine Mehrheit im Parlament.
4. Norwegen-Plus - oder ein Last-Minute-Deal
Niemand glaubt mehr daran, dass May ihren Deal durchs Parlament bringt. Dazu müsste sie unzählige Abgeordnete umstimmen - und das schafft sie nur, wenn sie Änderungen vornehmen kann. Doch Brüssel will das Paket nicht mehr aufschnüren. Denkbar ist jetzt nur noch ein Zusatzpaket, doch was kann die EU May hier anbieten? Es sieht derzeit nicht so aus, als liege die Lösung des Problems in einem Entgegenkommen Brüssels. Optimisten in London hoffen immer noch auf einen "weichen Brexit" mit einer starken Anbindung an die EU. Der Vorschlag "Norwegen Plus" sieht vor, dass Großbritannien vorübergehend dem Efta-Abkommen beitritt: Wie Norwegen, Island und Liechtenstein bliebe das Königreich in Zollunion und Binnenmarkt - der Backstop wird umgangen und Großbritannien ist nicht mehr dem Europäischen Gerichtshof unterworfen.
Doch derzeit geht die Tendenz in die andere Richtung: Alles deutet auf einen plötzlichen Brexit ohne Abkommen hin.
5. No Deal: Brexit ohne Abkommen
Viele werfen May vor, auf Zeit zu spielen: Je näher der Austrittstermin rückt, desto höher wird der Druck auf die Abgeordneten, doch noch für ihr Abkommen zu stimmen - als einzige Alternative zum Brexit ohne Deal. Kommt es zu keiner Mehrheit für Mays Abkommen, dann scheidet das Vereinigte Königreich am 29. März um 23 Uhr aus der Europäischen Union aus - völlig ungeordnet. Das folgende Szenario würde die fünftgrößte Wirtschaftsmacht wohl ins Chaos stützen, Grenzkontrollen und Zollabfertigungen wären nötig, die rechtliche Situation von EU-Bürgern in Großbritannien und Briten in der EU ungewiss. Das Vereinigte Königreich wäre auf die Handelsregeln der WTO zurückgeworfen, über Nacht müssten wieder Zölle zwischen Großbritannien und der EU erhoben werden. Bei Autos wären das zehn, bei Agrarprodukten bis zu 22 Prozent. Um neue Freihandelsabkommen aushandeln, würde London Jahre brauchen.
Die Zukunft der britischen Wirtschaft ist von der Frage abhängig, ob es einen Deal zwischen Großbritannien und der EU gibt. Experten und Wirtschafter wie der Direktor der Bank of England, Mark Carney, warnen vor einem No-Deal-Brexit und vergleichen die Folgen mit dem Ölschock in den 1970er Jahren. Das Geldhaus rechnet damit, dass das Pfund bei einem Brexit ohne Abkommen rund 25 Prozent an Wert verliert. Banken, Versicherungen und andere Finanzdienstleister würden über Nacht ihren größten Kunden verlieren. In der EU, in der bestimmte Regelungen gelten, dürften sie dann nicht mehr operieren.
Je mehr Zeit vergeht, ohne dass London eine Lösung findet, desto wahrscheinlicher wird ein Ausscheiden des Königreichs ohne Abkommen. Genau das wollen die Extremisten unter den Brexiteers: Die "Brextremisten" wünschen sich einen harten Bruch mit der EU. Sie räumen zwar ein, dass es am Anfang schwierig werden würde. Langfristig würde das Land aber aufblühen, weil es sich aus den Fängen der von Deutschland dominierten Union lösen und wieder komplett selbstständig wirtschaften könnte.
Wie es tatsächlich kommen wird, wie Großbritannien in drei, in fünf oder in zehn Jahren dasteht, das weiß auch Leave-Mastermind Cummings nicht. Es wird sich zeigen, ob sein Wahlkampfslogan "Take back control", Versprechen und Kampfansage zugleich, das Vereinigte Königreich zu mehr Wohlstand führt.